© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/14 / 27. Juni 2014

Das Dasein in der selbstgemachten Hölle
Geostrategie: Alexander Dugin plädiert für einen Großraum Eurasien als Gegengewicht zu den USA
Thorsten Hinz

Als ein Fürst der Finsternis geistert der russische Politologe und Publizist Alexander Dugin durch die westlichen und deutschen Feuilletons. Der 52jährige Professor an der Moskauer Staatsuniversität mit der bärtigen Anmutung eines Rasputin, Dostojewski oder Solschenizyn wird als Führer einer eurasischen Bewegung und graue Eminenz hinter dem Machtpolitiker Wladimir Putin gehandelt. Er konzipiere die Zerstörung der transatlantischen Gemeinschaft und die Aufrichtung eines Imperiums vom Atlantik bis zum Stillen Ozean, heißt es. In sein ideologisches Fundament seien Elemente der russischen Orthodoxie, des Faschismus, Nationalbolschewismus und der Konservativen Revolution eingelassen; die Neue Rechte Europas schaue zu ihm auf und sei damit zur Fünften Kolonne Putins geworden.

Als Dugin kürzlich in Wien mit FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und mit der Abgeordneten des Front National, Marion Maréchal-Le Pen (Enkelin des Parteigründers und Nichte von Marine Le Pen), zusammentraf, sahen einige gar die Heilige Allianz von vor 200 Jahren wiederauferstehen, das konservativ-monarchistische Dauerbündnis unter Führung des Zaren.

Doch sein Einfluß auf Putin ist unbewiesen. Manche Rußland-Kenner wie der Historiker Andreas Umland glauben, daß es sich umgekehrt verhält und der Präsident seinen vorgeblichen Einflüsterer instrumentalisiert. Was Europa betrifft, stellt er die Komplementärfigur zu Timothy Snyder dar. Der amerikanische Historiker belehrt die Europäer darüber, daß sie an die Seite der Amerikaner gehören (JF 25/14); der russische Professor sieht das naturgemäß umgekehrt. So vorhersehbar, so unspektakulär.

Martin Heidegger als wichtigster Bezugspunkt

Die Berichterstattung stützt sich meist nur auf Sekundärliteratur und auf synchronisierte Videos, die bei Youtube abrufbar sind. Auch in dem Buch „Das eurasische Schachbrett“ (2012) eines Bernhard Rode (wohl das Pseudonym für ein Autorenkollektiv), das die Globalstrategie Zbigniew Brzezinskis seziert und Dugin mehrfach zitiert, wird als Quellenbeleg nur ein Aufsatz über Dugin angegeben, der 1996 in der Zeitschrift Etappe erschienen war. Inzwischen wurde Dugins Buch „Die vierte politische Theorie“ ins Deutsche übersetzt (Arktos Verlag, London 2013).

Dugin tritt hier zum einen als Zeitdiagnostiker und Liberalismus-Kritiker, zweitens als politischer Theoretiker und Visionär, drittens als Geopolitiker auf. Er bezieht sich auf Ernst Niekisch, Arthur Moeller van den Bruck. Oswald Spengler, Carl Schmitt, Alain de Benoist, aber auch auf Samuel Huntington, Francis Fukuyama, auf Strukturalisten wie Claude Lévi-Strauss, auf Vertreter der Postmoderne, der Sprachphilosophie und Medientheorie. Das frappiert zunächst, wirkt allerdings je länger, desto eklektischer. Sein wichtigster Bezugspunkt aber ist Martin Heidegger.

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 habe der Liberalismus seinen letzten Gegner verloren, nachdem der Faschismus/Nationalsozialismus bereits 1945 in einer gemeinsamen Anstrengung zerschmettert worden war. Eingetreten ins Stadium der Postgeschichte und Postpolitik, erhebe er einen Absolutheitsanspruch und erkläre sich zur einzig möglichen Praxis. Statt Klasse, Rasse oder Staat mache er das Individuum zum einzigen „normativen Thema“, das sich mit der Globalisierung überkreuze. Die Menschenrechtsideologie sei Ausdruck dieser Synthese. Im Grunde handele es sich um einen „Postliberalismus“.

Nietzsche hat den „letzten Menschen“ klassifiziert, der konsumiert und genießt und den abhanden gekommenen geschichtlichen und geistigen Horizont nicht einmal vermißt. Der globalisierte Postliberalismus aber bleibt dabei nicht stehen. Die Zerstörung nationaler und kultureller Identitäten ist erst der Anfang. Gerade räumt er die sexuelle Identität als ein vermeintliches Konstrukt ab, um schließlich die menschliche Identität als solche zu zerlegen. Das alles führe zur Schleifung von Hierarchien und Differenzen und zur Nivellierung der Maßstäbe. Die Helden der Postmoderne seien Transvestiten und sonstige Deviante. Die Logik des Weltliberalismus führe geradewegs in den „Abgrund postmoderner Auflösung und Virtualität“. Er bediene sich der modernen Technik und der Medien, die die Menschen in den Kosmos einer ewigen Gegenwart aus Unterhaltung, Promis und Glamour versetzen, wo es weder eine Vergangenheit noch eine Zukunft gibt. Die Entwicklung wird auf der machtpolitischen Ebene von den USA vorangetrieben. Ihr Ziel: ein globales Amerika.

Der Konservative tritt in dreierlei Gestalt auf

Die Abkehr von Gott, Tradition, Ethnizität oder Staat ist für Dugin nicht bloß ein politischer Fehltritt, sondern der zwangsläufige Weg der Moderne: „Diesen Weg geht man völlig logisch; der Entscheidung, sich von allem zu befreien, was die menschliche Willkür im Zaum hält, folgte die logische Vollendung des modernen Menschen: Er befreite sich vor unseren Augen von sich selbst.“ Er gehorche einer „weltweiten metaphysische Kraft“, die Dugin mit Heidegger erklärt: Die abendländische Philosophie sei vor der Schwierigkeit, das Sein zu denken, in das technische Denken ausgewichen, das als „Gestell“ von ihm Besitz ergriffen habe.

In dieser selbstgemachten Hölle wird der politische Soldat, sei es als Faschist oder Kommunist, zum Simulacrum und zur Karikatur, so wie auch der Liberale kein Überzeugungstäter, sondern ein Mitläufer ist. Der Konservative, der im Namen des Gewesenen nein sagt, tritt in dreierlei Gestalt auf: Als Verfechter des Fundamentalkonservatismus wie des Islam, der sich auf ein geschlossenes und in sich rationales Weltbild stützt. Als Liberalkonservativer, der die Entwicklung nicht grundsätzlich aufhalten, sie aber verlangsamen will. Oder als konservativer Revolutionär, der die Entwicklung nicht einfach für böse hält, sondern als ein Zeichen, das auf die Tiefenstrukturen des Seins verweist, und der aus seinen vertieften Einsicht eine neue, vierte politische Theorie formt. Bis hierher ist die Analyse von bestechender Deutlichkeit und mit Gewinn zu lesen, doch dann wird es spekulativ, um nicht zu sagen: verblasen.

Da weder die Klasse noch die Rassen, noch das Individuum mehr zum geschichtlichen Subjekt taugen, ist ein neues, synthetisches Subjekt vonnöten: das „Dasein“ selbst, das als plötzliche Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spaltung ins politische Leben tritt. Das soll wohl heißen: Die nichtentfremdete Existenz wird zum politischen Akteur und schafft Ordnung in der Welt. An anderer Stelle heißt es mysteriös, das „Dasein“ erscheine als „radikales Androgynes“, das „nicht als Resultat einer Synthese aus Mann und Frau entstanden ist, sondern stattdessen deren ursprüngliche, unberührte Einheit bildete“.

Das ist eine krude Mischung aus Apokalyptik, Eschatologie, Dezisionismus und Anarchismus. Der Leser fühlt sich in einen Dostojewski-Roman versetzt, und es dämmert ihm, daß die „vierte politische Praxis“ bloß ein weiterer Wechselbalg der Postmoderne ist. Anscheinend hat Dugin das selbst gespürt, weshalb er am Schluß konventionelle „Kernprinzipien“ – soziale Gerechtigkeit, nationale Souveränität und traditionelle Werte – und eine politische Querfront aus Rechten, Linken, Konservativen und Anhängern traditioneller Religionen empfiehlt.

Das „Dasein“, das er meint, kommt in der Gestalt von Mütterchen Rußland daher. Dugin hat Mackinders „Herzland“-Theorie, Haushofers Geopolitik und Schmitts Überlegungen zur Raumordnung rezipiert und fordert als Alternative zur amerikanisierten „One World“ eine Vielheit aus Großräumen. Der wichtigste kontinentale Großraum wäre Eurasien, das sich hauptsächlich auf Rußland und Kontinentaleuropa, also Frankreich und Deutschland, stützt.

So weit, so gut. Doch vom schwächelnden Frankreich ist nichts beziehungsweise nur soviel zu erwarten, wie Deutschland ihm an Kraft zukommen läßt. Die Deutschen aber haben laut Dugin durch den Holocaust und den Vernichtungskrieg gegen die Slawen „ihre politische Freiheit und das Teilnahmerecht an der politischen Geschichte für eine lange Zeit verloren, wenn nicht auf ewig. Heute bleibt ihnen nur noch ihre Wirtschaft oder bestenfalls der Umweltschutz.“

In einem Video vom April 2014 wird Dugin noch deutlicher: Da Europa nicht in der Lage sei, sich vor seiner Selbstzerstörung und gegen die islamische Invasion zu wehren, sei es das beste, wenn Rußland es als Protektorat unter seinen militärischen Schutz stellte – zu beiderseitigem Nutzen, versteht sich. Zum Glück der Europäer ist Dugin ein Anhänger des Ethnopluralismus, weshalb er den Völkern Europas weitgehende Autonomie zubilligen würde.

Er überschätzt grotesk die Stärke und aktuelle Verführungskraft Rußlands und unterschätzt die negativen Erfahrungen, die viele Europäer im 20. Jahrhundert mit Rußland gemacht haben. Nein, Eurasien kann nur aus zwei getrennten Großräumen bestehen, die im Bedarfsfall ein gemeinsames Gegengewicht zu anderen Großräumen bilden würden, um sich ihrer wirtschaftlichen, politischen und militärischen Kujonierung und kulturellen Zerstörung zu erwehren.

Alexander Dugin: Die Vierte Politische Theorie. Arktos Media, London 2013, kartoniert, 238 Seiten, 21,50 Euro

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