© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/14 / 27. Juni 2014

Ein Mord mit russischer Rückendeckung
Vor hundert Jahren wurde in Sarajevo der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand von serbischen Extremisten erschossen
Werner Lehfeldt

Am 28. Juni dieses Jahres jährt sich zum hundertstenmal das Attentat von Sarajevo, bei dem der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie durch Kugeln aus der Pistole des noch nicht zwanzigjährigen bosnischen Serben Gavrilo Princip ermordet wurden, nachdem knapp eine Stunde zuvor ein von Nedeljko Čabrinović unternommener erster Anschlag mißlungen war.

Dieses Ereignis – der letzte und verhängnisvollste von insgesamt sieben Mordanschlägen gegen die politische Elite der Habsburger Monarchie – löste eine Krise aus, die bald den Rahmen eines Konflikts zwischen Österreich-Ungarn und Serbien überschritt und Ende Juli/Anfang August in einen schließlich weltumspannenden Krieg mündete, der sämtliche bis dahin geführten Kriege in grausiger Weise übertreffen sollte. Die Mordtat von Sarajevo gehört mithin zu den Schlüsselereignissen der Weltgeschichte. Bedenkt man, daß die Folgen des Ersten Weltkriegs bis tief in unsere Gegenwart reichen, dann wird klar, daß es dieses Attentat verdient, aus Anlaß seines 100. Jahrestages hinsichtlich Planung und Vorbereitung sowie im Hinblick auf seine Folgen aufmerksam analysiert zu werden.

Was Planung und Vorbereitung des Attentats von Sarajevo betrifft, so ist es äußerst wichtig zu unterscheiden zwischen dem Erkenntnisstand, zu dem die österreichischen Ermittler in den knapp vier Wochen zwischen dem Mord und der Übermittlung des sogenannten Ultimatums an Serbien am 23. Juli gelangten, und dem, was heute an gesicherten Erkenntnissen vorliegt. Bei den sogleich nach dem Attentat aufgenommenen Ermittlungen österreichischer Beamter stellte sich schnell heraus, daß der Anschlag auf das Leben des Thronfolgers nicht von isolierten Einzeltätern unternommen worden war, sondern daß die Spur des Verbrechens nach Belgrad führte.

Dort waren seit März 1914 drei der sieben Attentäter, die dann am 28. Juni entlang der Fahrtstrecke des erzherzoglichen Autokonvois postiert werden sollten, darunter Nedeljko Čabrinović und Gavrilo Princip, mit Waffen ausgerüstet sowie unter Oberaufsicht des Majors Vojislav Tankosić im Bombenwerfen und Pistolenschießen unterwiesen worden, und serbische Grenzbeamte hatten die drei jungen Männer samt deren Waffen über die serbisch-bosnische Grenze gebracht und den Weitertransport bis nach Sarajevo organisiert. Den im Juli ermittelnden Beamten gelang es damals jedoch nicht, das gesamte Ausmaß der serbischen Verwicklung in die Attentatsvorbereitung aufzudecken – ein Umstand, dem eine entscheidende geschichtliche Bedeutung zuzuschreiben ist.

Die Belgrader Regierung nahm Großkonflikt in Kauf

Nach heutigem Erkenntnisstand war Hauptanstifter und -organisator des Attentats – unter Vermittlung seines Agenten Rade Malobabić – Oberst Dragutin Dimitrijević, genannt Apis, der Chef des Abwehrdienstes des serbischen Generalstabs, der bereits 1903 als führendes Mitglied der Terrororganisation „Schwarze Hand“ an der Ermordung des serbischen Königs Aleksandar Obrenović und von dessen Gemahlin beteiligt gewesen war. Wie Apis im Jahre 1917 einige Wochen vor seiner Hinrichtung in Saloniki in einem Brief an das über ihn zu Gericht sitzende Offiziersgericht unumwunden bekannt hat – dieser Brief sollte nach dem Krieg von den Serben verheimlicht werden und wurde erst 1953 in Belgrad publiziert –, hatte er geglaubt, Österreich rüste gegen Serbien zum Krieg und durch das Verschwinden des Thronfolgers könne die Kriegsgefahr von Serbien abgewendet werden. „Ich habe deshalb den Rade Malobabić angeworben, das Attentat von Sarajevo zu organisieren. Malobabić hat meinen Auftrag ausgeführt und das Attentat organisiert.“

Wichtig ist es auch, zu unterstreichen, daß sich Apis laut seinem Geständnis erst dann endgültig zur Durchführung des Attentats entschloß, „als mir Artamanov die Versicherung gegeben hatte, Rußland werde uns nicht ohne Schutz lassen, sollte uns Österreich angreifen“, womit Oberst Artamanov, der russische Militärattaché in Belgrad gemeint war. Die Hauptteilnehmer an dem Attentat erhielten „kleine Honorare“, für deren Auszahlung Dimitrijević von Artamanov mit Geld versorgt wurde, „denn der Große Generalstab verfügte noch nicht über einen Kredit für diese verstärkte Tätigkeit“.

Es ist also mehr als wahrscheinlich, daß Artamanov und über ihn der allmächtige russische Gesandte in Belgrad, Nikolai Hartwig, über die Vorbereitungen des Attentats im Bilde waren. Mitte Juni erfuhren auch Ministerpräsident Nikola Pašić und Innenminister Stojan Protić von den Attentatsvorbereitungen, unternahmen aber nichts, um den Anschlag zu verhindern. Nach Ansicht von Pašić konnte nur ein europäischer Konflikt unter Beteiligung der Großmächte die großen Hindernisse beseitigen, die einer serbischen „Wiedervereinigung“ im Wege standen. Er forderte von dem russischen Zaren Hilfe für den Fall eines österreichischen Angriffs. Dieses Szenarium konnte aber nur dann zum Erfolg führen, wenn der Mord an Franz Ferdinand in Europa nicht selbst als Akt serbischer Aggression aufgefaßt würde.

Wären die hier genannten Umstände bereits im Sommer 1914 bekannt geworden, so hätte dies den durch die Greueltaten der Balkankriege ohnehin stark beeinträchtigten internationalen Kredit Serbiens vollends zerstört. Es wäre der serbischen Regierung kaum möglich gewesen, ihr Land als Opfer eines Angriffs von Seiten Österreich-Ungarns zu stilisieren. Und Rußland wäre es schwer, wenn nicht unmöglich gemacht worden, sich für seinen „unschuldigen“ serbischen Klienten in die Bresche zu werfen und Frankreich sowie schließlich auch Großbritannien auf seine Seite zu ziehen und damit den Auslöser zu betätigen, den die russische und die französische Außenpolitik mit ihrer gegen Österreich-Ungarn und damit bewußt gegen dessen Verbündeten Deutschland gerichteten Stoßrichtung bis zum Sommer 1914 an der österreichisch-serbischen Grenze installiert hatte.

Am Abend des 23. Juli wurde der serbischen Regierung von dem österreichisch-ungarischen Gesandten in Belgrad eine auf 48 Stunden befristete diplomatische Begehrnote übermittelt. Diese Note wird in der historiographischen Literatur fast durchgängig als Ultimatum bezeichnet. Diese Bezeichnung ist jedoch unzutreffend, da die Note, anders als bei einem Ultimatum, für den Fall der Ablehnung der in ihr gestellten Forderungen mit keinerlei konkreten Konsequenzen drohte, insbesondere nicht mit dem Eintritt des Kriegszustandes, der wirklich auch erst am 28. Juli mit der Kriegserklärung an Serbien erfolgte.

In dem entscheidenden Punkt 6 der Begehrnote wurde die Mitwirkung österreichisch-ungarischer „Organe“ an den Vorerhebungen der serbischerseits durchzuführenden gerichtlichen Untersuchung der Vorgeschichte des Attentats von Sarajevo verlangt. Zur Aufstellung gerade dieser Forderung hatte das Wiener Außenministerium jegliche Berechtigung, denn bis zur Überreichung der Begehrnote hatten die Belgrader Behörden aus eigener Initiative keinerlei Untersuchung eingeleitet, die der Bedeutung des Verbrechens und der von ihm ausgelösten Krise auch nur annähernd entsprochen hätte.

Wenn man auch heute noch immer wieder lesen kann, die Ablehnung der Forderung von Punkt 6 sei deshalb erfolgt und berechtigt gewesen, weil eine Annahme eine Einschränkung der Souveränität Serbiens bedeutet hätte, so ist dieser Auffassung zu widersprechen, nicht zuletzt deshalb, weil sich Wien auf einen Präzedenzfall berufen konnte, bei dem Österreich 1868 serbischen Beamten gestattet und ermöglicht hatte, auf dem Boden der Monarchie Ermittlungen gegen Personen durchzuführen, die von Belgrad der Beteiligung an der Ermordung des serbischen Fürsten Mihailo verdächtigt wurden. „Hinter dem Beharren auf der eigenen Souveränität stand vor allem die Befürchtung, daß die Hintergründe des Attentats in Serbien und das Ausmaß der Verwicklung staatlicher Akteure und Institutionen international bekanntwerden könnten“ (J. Leonhard).

Bereits am Mittag des 25. Juli setzte Zar Nikolaus II. seine Unterschrift unter das Gesetz über den Kriegsvorbereitungszustand, das um Mitternacht in Kraft trat. Er tat dies mithin zu einem Zeitpunkt, da die in der Wiener Begehrnote gesetzte Frist noch nicht abgelaufen war und bevor Österreich-Ungarn mobilisiert hatte, von Deutschland ganz zu schweigen. Unbedingte Unterstützung für diese so früh eingenommene harte Linie gegenüber Wien hatte die russische Staatsführung von dem französischen Staatspräsidenten Poincaré während dessen Staatsbesuchs in St. Petersburg vom 20. bis zum 23. Juli und von dem französischen Botschafter Paléologue bekommen.

Alle diese russischen Maßnahmen wurden in möglichster Geheimhaltung getroffen, und sie bedeuteten eindeutig eine Vorbereitung auf den Krieg. Der Plan für die Kriegsvorbereitungsperiode war bereits 1912 bis 1913 entwickelt worden und zielte darauf ab, sowohl Österreich-Ungarn wie Deutschland gegenüber bei der Mobilisierung der Streitkräfte einen Vorsprung zu gewinnen. Sie bezeichnete eine Periode, in der bereits angelaufene Kriegsvorbereitungen durch diplomatische Scheingefechte maskiert und die Gegner soweit wie möglich eingelullt werden sollten, wie es dann in der Julikrise auch tatsächlich geschah.

Rußland war also in dem heraufziehenden Konflikt die erste europäische Macht überhaupt, die mobilisierte, und zwar zugleich gegen Österreich-Ungarn und Deutschland. Diese Mobilisierung war bereits am 28. Juli weit vorangeschritten. Das Reden von einer angeblichen Teilmobilmachung diente nur dazu, vor allem Großbritannien vorzuspiegeln, daß Rußland keinen Krieg mit Deutschland suche. Technisch war eine allein gegen Österreich-Ungarn gerichtete Teilmobilmachung aber unmöglich und wurde auch niemals durchgeführt.

In der Nacht des 29. Juli, als es auf deutscher Seite noch keinerlei Mobilisierungsvorbereitungen gab, unterzeichnete der Zar die Generalmobilmachung. Er und alle seine Berater wußten, daß dies den Krieg bedeutete. Daß er sich dieses Umstands tatsächlich bewußt war, wird am klarsten dadurch bezeugt, daß er auf ein dringendes Telegramm Kaiser Wilhelms II. hin seine Unterschrift noch einmal zurückzog und sich erst sechzehn Stunden später dazu durchrang, seine schriftliche Zustimmung zur Generalmobilmachung endgültig zu erteilen. Damit war einen Monat nach den tödlichen Schüssen von Sarajevo der Weg in einen Konflikt europäischen Maßstabes freigemacht, einen Konflikt, der sich durch den Kriegseintritt Großbritanniens am 4. August zu einem Weltkrieg ausweiten sollte.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen