© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/14 / 11. Juli 2014

Beherrscht von Angst und überhitzten Gemütern
Nahost: Die neue Gewaltwelle offenbart das brüchige Fundament israelischer und palästinensischer Koexistenz
Günther Deschner

Mordanschläge von beiden Seiten, von Palästinensern aus Gaza an jüdischen Talmudschülern in Jerusalem, dann der mutmaßliche Rachemord an einem palästinensischen Jugendlichen. Ein Autopsiebericht ergab, daß er bei lebendigem Leib verbrannte. Unruhen, Raketen von der palästinensischen Hamas und israelische Luftangriffe auf den Gaza-Streifen waren die Folge. Eine neue Runde im palästinensisch-jüdischen „Erbkonflikt“? Die Quittung dafür, daß Israels Premier die Gespräche mit Palästinenserpräsident Abbas über noch mehr Häuserbau jüdischer Siedler im Westjordanland platzen ließ, daß er Abbas und mit ihm den US-Außenminister John Kerry, einen engagierten Vermittler, wie dumme Jungs stehenließ?

Auch in der israelischen Regierung selbst knistert es: Der skandalumwitterte Außenminister Avigdor Lieberman kündigte am Wochenende das Parteibündnis mit Netanjahus Likud-Bewegung auf, will nur „unter Vorbehalt“ „vielleicht“ in der Koalition bleiben. Lieberman hat Netanjahus Vorgehen gegen die im Gaza-Streifen herrschende Hamas schon immer als „zu lasch“ kritisiert. Er fordert eine großangelegte Militäroffensive in das Palästinensergebiet am Mittelmeer. „Die Realität, in der wir leben, mit Hunderten von Raketen, die eine Terrororganisation wie Hamas zur Verfügung hat und die jederzeit entscheiden kann, wann sie sie einsetzen will, ist unerträglich. Ich verstehe nicht, worauf wir warten.“

Lieberman ist Vorsitzender der rechtsextremistischen Partei Israel Beitenu (Israel Unser Haus) und war seit 2009 im Amt. Nachdem er vergangene Woche wegen Korruption, Geldwäsche, Bestechung und Betrugs angeklagt wurde, reichte er sein Entlassungsgesuch ein und ließ alle Ämter ruhen.

Lieberman setzt Netanjahu unter Zugzwang

Nach Liebermans Rückzug reduziert sich die Zahl der Knesset-Abgeordneten, auf die sich Netanjahu verlassen kann, von 31 auf 20 – auf ein Sechstel der insgesamt 120 Parlamentarier im israelischen Parlament! Mehrheiten zu finden, wird für den Premier deshalb noch komplizierter werden als bisher schon. Seine Mitte-Rechts-Regierung taumelt. Eine Lösung scheint nicht in Sicht.

Als sicher gilt, daß sich der Schlagabtausch zwischen Israel und der im Gaza-Streifen herrschenden radikal-sunnitischen Hamas weiter zuspitzt. Nach heftigen Luftschlägen Israels kündigte die Organisation Rache für die Opfer an.

Die Lage in und um Israel ist ernst. Allein in der Nacht zum Montag seien in Israel 33 aus Gaza abgefeuerte Raketen und Mörsergranaten eingeschlagen, teilte die Armee mit. Am Montag und Dienstag dieser Woche griff die israelische Luftwaffe erneut Ziele im Norden des Gaza-Streifens an. Und das israelische Sicherheitskabinett hat sich inzwischen mehrfach zu weiteren „Dringlichkeitssitzungen“ getroffen.

Ob in dieser Situation kleine Gesten noch etwas bringen, mit denen Israels Premier sich bemüht, die Wogen zu glätten? Dem Vater des 16jährigen Arabers Mohammed Abu Chedair, der „Opfer eines blinden Rachemords“ geworden sei, sprach er sein Beileid aus. Er selbst und die Bürger Israels seien „tief erschüttert von dem abscheulichen Mord“. Bei den festgenommenen Tatverdächtigen handele es sich um „eine Zelle von Mitgliedern des ultrarechten Lagers“. Tatmotive seien offenkundig „Haß auf Araber und blinde Rache für den Mord an den israelischen Teenagern“.

Doch angesichts der Gewalt wächst in beiden Lagern die Sorge vor einem neuen Gaza-Krieg und einem neuen Palästinenseraufstand. Hamas-Sprecher Sami Abu Suhri beschrieb die israelischen Luftangriffe als „schwerwiegende Eskalation“. Niemand könne überrascht sein, sagte er, wenn Hamas „neue Ziele“ in Israel angreife. Bei dem letzten großen Schlagabtausch im November 2012 hatte Hamas auch die israelischen Großstädte Tel Aviv und Jerusalem angegriffen.

Doch seither ist die Hamas nicht stärker geworden: Sie verlor Syrien als großen Unterstützer. Auch der Iran hilft nicht mehr. Die Militärregierung in Ägypten erklärte die Hamas zum Teil der Moslembruderschaft und damit zum Teil des Feindes. Sie braucht also irgend-einen Partner. Auch Abbas steht unter Druck und sucht Unterstützung.

Auf der anderen Seite hat Lieberman nie ein Geheimnis daraus gemacht, daß er die Politik Netanjahus für viel zu zaghaft hält. Das Klima zwischen dem Regierungschef und seinem Chef-Diplomaten verschlechterte sich in den vergangenen Monaten denn auch drastisch. Doch Liebermans Forderung, Bodentruppen einzusetzen, stieß bei Premier Netanjahu bis dato auf taube Ohren.

Ruhig aber wird es um ihn, wenn es nach ihm geht, nicht werden. Als versiertes Stehaufmännchen hat er bereits angekündigt, die „Auszeit“ zu nutzen, um sich ganz auf den Wahlkampf zu konzentrieren – eine Pause von gerade mal fünf Wochen. Dann sollen bereits die Vorbereitungen für die Parlamentswahlen 2015 beginnen.

Nach den jüngsten Umfragen könnte das Bündnis von Netanjahus Likud und Liebermans Beitenu – in Israel spöttisch „Bieberman-Bündnis“ genannt – mit 35 Sitzen zwar die relativ stärkste Kraft werden, eine eigene Mehrheit jedoch deutlich verfehlen. Vorgezogene Neuwahlen zeichnen sich nicht ab, weil daran derzeit keine Partei ein Interesse hätte.

Foto: Ein Palästinenser auf den Resten seines Hauses im Gaza-Streifen: Opfer der Politik von Hamas und Israels

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