© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/14 / 11. Juli 2014

Die Königin der Oper
Anna Netrebko: Die russische Sopranistin brilliert in einer frühen Verdi-Komposition / Übergangsphase auf dem Weg zu Wagner-Rollen
Markus Brandstetter

Als er alt war, bezeichnete Giuseppe Verdi die Jahre zwischen 1842 und 1851 als seine „Galeerenjahre“, weil er in dieser Zeit vierzehn Opern geschrieben hatte – in nur neun Jahren. In manchen Jahren verfaßte er zwei oder sogar drei Partituren, darunter halbe Meisterwerke wie „Luisa Miller“ und „Macbeth“, mit dem er sich, wie mit allen seinen Shakespeare-Opern, jahrelang herumschlug.

Es erstaunt noch immer, daß Verdi ein mörderisches Tempo durchstand, dem viele seiner Vorgänger, die sich einem ähnlichen Streß aussetzten, nicht gewachsen waren. Bellini starb mit siebenunddreißig entkräftet und erschöpft an der Ruhr, Donizetti wurde nach 52 Opern ins Irrenhaus eingeliefert, und Rossini hatte mit siebenunddreißig, als er 42 Opern hinter sich hatte, vom Komponieren die Nase voll, zog nach Paris und widmete sich dem Gourmet-Kochen.

Verdi aber, der Bauernsohn vom Lande, der aus einem härteren Holz als andere geschnitzt war, hielt durch, komponierte wild, hastig und manchmal ziemlich plakativ drauflos, aber er überlebte. In seinen späteren Jahren war ihm seine frühe Fron peinlich, weshalb keiner den alten Verdi auf seine Werke vor „Rigoletto“ ansprechen durfte.

Eine der Opern aus dieser Zeit ist „Giovanna d’Arco“, die 1845 an der Mailänder Scala Premiere hatte. Von Anfang an, schreibt Verdis Biograph Joseph Wechsberg, ging alles schief. Während der Proben schrie der Komponist wie ein Verrückter und stampfte so sehr mit seinen Bauernstiefeln, die er damals noch trug, daß es aussah, als spiele er Orgel. Ziemlich schnell bekam Verdi Krach mit jedermann. Die Primadonna weinte mehr, als daß sie sang, der Chor sang entweder zu laut oder zu leise oder gar nicht, das Orchester war auch nicht besser, und die Bühnentechnik funktionierte wieder einmal nicht. Die Premiere war ein Mißerfolg, obwohl die Chöre beklatscht wurden.

Für Verdi, der ein gutes Gedächtnis hatte, nie eine Beleidigung vergaß, auch wenn er das äußerlich kaum zeigte, und auf Mailand sowieso einen Haß hatte, weil er dort als Achtzehnjähriger durch die Aufnahmeprüfung am Konservatorium geflogen war, war Mailand damit erledigt. Zumindest für zwei Jahrzehnte. Erst 1859 kam der Maestro wieder mit einer Oper an die Scala.

„Giovanna d’Arco“, nach Schillers „Jungfrau von Orleans“ getextet, zählt keineswegs zu Verdis schwächeren Werken, trotzdem wird sie außerhalb Italien kaum aufgeführt. Keine Arie, kein Ensemble, kein Chor daraus, nicht einmal die Ouvertüre mit den schönen Melodien für die Holzbläser, ist dem breiten Publikum im Gedächtnis geblieben, und auch bei Operngalas und Querschnitten sucht man Nummern aus „Giovanna d’Arco“ normalerweise vergebens.

Nun aber hat die Deutsche Grammophon einen Live-Mitschnitt der umjubelten konzertanten Aufführung der Oper bei den Salzburger Festspielen 2013 herausgebracht (JF 27/14). Anna Netrebko brilliert in der Titelpartie, Placido Domingo in der Rolle des Giacomo, dem Vater der berühmten Märtyrerin. Francesco Meli singt Carlo VII., den König von Frankreich. Dirigent ist Paolo Carignani, der das Münchner Rundfunkorchester leitet, ein Orchester, das sich in den letzten zwanzig Jahren zu einem der besten Klangkörper zur Begleitung von Gesangsgrößen entwickelt hat.

Anna Netrebko, Jahrgang 1971, befindet sich im Moment sowohl stimmlich als auch figürlich in einer Übergangsphase. War sie früher ein schlanker, lyrischer Sopran, der auch Mozart-Partien gut meisterte und in Partien wie der Violette in „La Traviata“ und der Mimi in „La Bohème“ begeisterte, so geht ihre stimmliche Entwicklung nun hörbar in Richtung eines dramatischen Soprans. Das sieht man auch daran, daß der volle Terminkalender der Russin (die inzwischen auch die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt) anzeigt, daß sie im Oktober an der New Yorker Metropolitan Opera die Lady Macbeth singen wird, eine große, hochdramatische Sopran-Partie, wie sie bei Verdi nicht oft vorkommt.

Vor allem aber scheint sie vorzuhaben, sich auch das dramatische Wagner-Fach zu erschließen. So macht sie seit langem kein Geheimnis daraus, daß sie sich nach der Elsa im „Lohengrin“ sehnt. Bereits Ende 2008 sprach sie davon in einem Interview mit der Zeitschrift Opernwelt und erklärte: „Grundsätzlich bin ich Wagnerianerin.“ Nun will sie die Elsa-Partie 2016 in Dresden übernehmen, mit Christian Thielemann am Dirigentenpult. Falls es dazu kommt, könnten wir in fernerer Zukunft vielleicht auch mit einer Anna Netrebko als Isolde rechnen.

Daß eine Sopranistin das Fach wechselt und dann sowohl lyrische als auch hochdramatische Partien singt, ist nicht einmal so ungewöhnlich, wie es sich anhört, auch wenn es für jede Sängerin eine enorme Herausforderung bedeutet und größte Anforderungen an Ausbildung, Disziplin und technische Grundlagen stellt. Aber Anna Netrebko hat von 1988 bis 1993 am Rimski-Korsakow-Konservatorium in Sankt Petersburg studiert, wo die Ausbildung traditionell hervorragend ist; es ist also davon auszugehen, daß sie den Fachwechsel mit Bravour meistern wird.

Trotz bester Ausbildung und einer großen und agilen Naturstimme hatte jedoch auch diese Sängerin in den letzten Jahren mitunter mit stimmlichen Problemen zu kämpfen, was den langen Stunden in Flugzeugen und ganz allgemein dem Operntourismus, den alle Spitzensänger heute absolvieren müssen, geschuldet ist.

Es gibt berühmte Beispiele für einen Fachwechsel unter Sopranistinnen, wie es auch immer schon Sängerinnen gab, die das ganze Spektrum, das Komponisten von einer Sopranstimme verlangen, abdecken können, denken wir nur an Maria Callas. Joan Sutherland begann als glockenheller Koloratursopran, wurde jedoch mit zunehmendem Alter von der Stimme her immer voluminöser und stärker. Hildegard Behrens, die größte Salome ihrer Generation, hat als „normaler“ Sopran in Nebenrollen begonnen und sich erst mit Anfang Vierzig, also im selben Alter, in dem Anna Netrebko heute steht, in einen großen, dramatischen Sopran verwandelt.

Auch wenn Anna Netrebko nicht über die ganz große Gestaltungskraft einer Maria Callas verfügt, so ist sie heute doch die weltweit beste und ihr Fach dominierende Sopranistin. Viele Opernfreunde sehen in ihr nicht weniger als die amtierende Königin dieser Kunstform, die noch auf Jahre hinaus die Opernhäuser der Welt prägen wird.

Giuseppe Verdi, Giovanna d’Arco, Deutsche Grammophon, 2014 www.deutschegrammophon.com

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