© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/14 / 11. Juli 2014

Er konnte die Musik zum Atmen bringen
Klassik: Herbert von Karajan zählt zu den bedeutendsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts
Markus Brandstetter

Ende der 1950er Jahre kursierte in Wien dieser Witz: Herbert von Karajan steigt an der Wiener Staatsoper in ein Taxi ein, worauf ihn der Fahrer fragt: „Wo wollen’s denn hin, Herr von Karajan?“ Darauf antwortet der Dirigent: „Egal wohin. Ich bin überall gefragt.“

Wie jeder Witz enthält auch dieser eine kleine Wahrheit. Schon im Jahr 1960, mit 52 Jahren, war Karajan in Personalunion Chefdirigent der Berliner Philharmoniker auf Lebenszeit, Leiter der Salzburger Festspiele und Chef der Wiener Staatsoper. Die nächsten dreißig Jahre verkörperte Karajan die klassische Musik wie kein anderer Mensch vor oder nach ihm.

Natürlich hatte es auch vor ihm schon berühmte Dirigenten gegeben: Arturo Toscanini, Leopold Stokowski oder Wilhelm Furtwängler, Karajans Vorgänger an der Spitze der Berliner Philharmoniker, zum Beispiel – aber keiner von ihnen hatte soviel Macht im Musikgeschäft, keiner wußte sich medial so in Szene zu setzen, keiner betrieb seine strategische Selbstvermarktung auf allen Gebieten so klug, energisch und manchmal auch gerissen wie der schlanke, stets höfliche und eigentlich schüchterne Sproß einer Salzburger Ärztefamilie.

Dabei hatte es an Konkurrenz nie gemangelt. Leonard Bernstein war als Dirigent ebenso prominent, nebenbei ein guter Komponist und verfügte über ein viel breiteres Repertoire. Der Ungar Georg Solti war der bessere Pianist, ein freundlicherer Mensch, weniger besessen von Macht, Geld und Ansehen, und hat es vielleicht genau deshalb nie so weit gebracht wie Karajan. Carlo Maria Giulini war als Operndirigent Karajan ebenbürtig, Sir Colin Davis war der bessere Mozart- und Berlioz-Dirigent, Günter Wand hatte die schlüssigeren Dirigier-Konzepte – aber am Schluß, wenn man fragte, wer ist der Größte von allen, dann lautete die Antwort immer: Karajan.

Dabei ist heute gar nicht mehr so klar, wie Karajan zu dieser Ausnahmestellung eigentlich kam, denn wenn man heute seine Aufnahmen nochmals durchhört, dann bleibt mehr Schatten als Licht. Doch beginnen wir mit dem Licht.

Sein Repertoire war kleiner als das seiner Konkurrenten

Karajan konnte wie nur Furtwängler vor ihm die Musik zum Atmen bringen, den verborgenen Rhythmus, den inneren Sinn hinter den Noten, die Geschlossenheit, die die großen Meisterwerke aufweisen, aufspüren und ans Tageslicht bringen. Karajan zerfiel eine Symphonie von Sibelius, die thematisch wie ein Fleckerlteppich komponiert ist, nicht unter den Händen, er holte den komplexen Sinn hinter den großen Tschaikowski-Symphonien ans Licht, er meißelte die Struktur und die innere Einheit hinter den Werken von Beethoven, Schubert, Brahms und insbesondere Bruckner heraus, er konnte aus Trümmern und Fragmenten eine größere Einheit schmieden.

In seinen früheren und guten Jahren, also ungefähr bis 1975, hat Karajan rhythmisch präzise, dynamisch gut abgestuft, farbenreich und am Klang der Epoche orientiert dirigiert, was man an seinen Aufnahmen der Violinkonzerte von Mozart oder der Symphonien von Robert Schumann und am ersten Zyklus der Beethoven-Symphonien gut hört.

Legendär sind auch Karajans Opern-Aufnahmen für die EMI, die hauptsächlich in den fünfziger Jahren entstanden. Auch heute noch hört man staunend, wie er Maria Callas in Verdis „Troubadour“ mit einem Feuer durch die Oper treibt, daß keine Minute lang Langweile aufkommt und die total verworrene Handlung fast schon logisch erscheint. Ohnehin wußte Karajan viele Jahre lang, wie man große Stimmen führt und sie mit dem Orchester so begleitet, daß von ihnen noch etwas zu hören ist und die Sänger zum Luftholen kommen.

In den siebziger Jahren tritt Karajan in den Zenit seiner Macht. Er ist Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, kann dirigieren und aufnehmen, was er will und hat bei allem technisch immer das letzte Wort. Zwischen 1970 und 1979 nimmt er unglaubliche 82 Platten für die Deutsche Grammophon auf, also eine im Monat. Die Salzburger Festspiele, wo er die Programme bestimmt und seine Opern auch inszeniert, sind sein privates Fürstentum. Sein Repertoire, seit jeher kleiner als das seiner Konkurrenten, weil er moderne Musik nicht mag, schrumpft nun so weit, bis es nur noch aus den großen Meistern von Mozart bis Mahler besteht, und auch da liegt der Schwerpunkt auf der Wiener Klassik, den Romantikern, Verdi und Richard Strauss.

Das Haupttempo in allen schnellen Sätzen ist nun ein behäbiges, rhythmisch wenig akzentuiertes Allegro Moderato, in den langsamen Sätzen wird aus einem Andante immer öfter ein Largo, die mächtigen, körnigen Bläser der Berliner Philharmoniker spielen immer lauter, während die Streicher ihren üppigen und mit viel Vibrato gewebten Klangteppich unterschiedslos und wie Ketchup über alles von Schubert bis Schostakowitsch breiten.

Eine Brahms-Symphonie klingt jetzt wie eine von Tschaikowski, ein Violinkonzert von Mozart wie eines von Bruch. Karajan hat Solisten mit einem eigenen Kopf – das Paradebeispiel wäre der Pianist Swjatoslaw Richter – noch nie gemocht, weshalb er jetzt meist mit Teenagern wie Anne-Sophie Mutter oder Jewgeni Kissin musiziert, die ihn vergöttern.

Er begeisterte sich für die allerneueste Technik

Hinzu tritt Karajans besessener Umgang mit seinem Vermächtnis. Er begeistert sich seit jeher für die allerneueste Technik. Bereits 1966 hat der Dirigent mit dem Filmehändler Leo Kirch zusammen eine Firma gegründet, die Filmaufnahmen von vielen Karajan-Konzerten und Opern macht. Auf diesen Filmen, die meist im Playback-Verfahren entstanden, ist Karajan mit viel indirekter Beleuchtung und mit dem Weichzeichner immer gut in Szene gesetzt, während von den Musikern nicht viel zu sehen ist.

Dieses Konservieren der eigenen Interpretationen für die Ewigkeit ist ein Gedanke, den nicht nur Karajan hatte – Igor Strawinsky dachte ganz ähnlich –, aber es war ein Schritt in die falsche Richtung. Gewiß gibt es quasi überzeitliche Interpretationen, aber die meisten sind das nicht, Geschmack und die Aufführungspraxis ändern sich, weshalb viele einstmals in Marmor gegrabene Einspielungen irgendwann nur noch altbacken wirken und nach Naphthalin riechen. Unmittelbar nach Karajans Tod begann der Siegeszug der historischen Aufführungspraxis, der Karajans Musikfilme weitgehend in die Archive verbannte.

Karajans letzte Lebensjahre waren von Krankheit und Erschöpfung überschattet. Der Mann, der immer den neuesten und schnellsten Porsche fahren, seine eigenen Flugzeuge steuern und eine Hochseejacht segeln konnte, litt nach einem Bandscheibenvorfall und mehreren Stürzen, einem vom Dirigentenpult in der Berliner Philharmonie, die letzten Jahre seines Lebens fast immer unter Schmerzen und konnte sich nur noch eingeschränkt bewegen. Er hat das mit großem Stoizismus ertragen und mit all seiner Energie dagegen angekämpft, aber die Hektik und die andauernde Anspannung haben aus einem Mann, der einst mit Luis Trenker auf die höchsten Berge gestiegen ist und beim Skifahren Streckenrekorde gebrochen hat, einen gebrechlichen alten Mann gemacht, der am 16. Juli 1989 in seinem Haus in bei Salzburg während eines Gesprächs zurückgesunken und plötzlich verstorben ist.

Viele der 800 Platten, die Karajan aufgenommen hat, werden die Zeit nicht überdauern, aber seine zweite Gesamtaufnahme der Beethoven-Symphonien aus dem Jahr 1962, die Einspielungen der Werke von Bruckner, Sibelius und Richard Straus aus den siebziger und achtziger Jahren, „Cosi fan tutte“ mit Elisabeth Schwarzkopf aus dem Jahr 1955 und der wundervolle „Trovatore“ mit Maria Callas aus dem Jahr 1957 werden ihren Status als Aufnahmen, an denen sich alle anderen orientieren müssen, auch noch in Jahrzehnten besitzen.

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