© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/14 / 11. Juli 2014

Außen- und Sicherheitspolitik
Der Beginn eines Umdenkens
Peter Michael Seidel

Was der 11. September 2001, die Zerstörung des World Trade Centers, für die USA, könnte der 23. März 2014, als Rußland die Krim annektierte und damit zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg die Grenzen in Europa einseitig änderte, für Europa werden: der Beginn eines Umdenkens. So wie der US-Präsidentenberater Francis Fukuyama nach dem Angriff der Al Kaida seine Thesen vom „Ende der Geschichte“ revidierte, könnte diese Vorstellung jetzt auch in Europa an ihr Ende kommen: „Die Welt wird Zeuge eines neuen Zeitalters sein – das der Energieaußenpolitik, Energiesicherheitspolitik und der Renaissance der strategischen Ressourcen“ (Alexander Rahr 2008).

Die Ukraine bildet zusammen mit Georgien die Landverbindung Europas zu den größten Energiereserven der Welt am Kaspischen Meer. Jetzt sind beide Länder geteilt in einen russisch und einen westlich orientierten Teil. Dort geht es um Einflußzonen, auf beiden Seiten. Die USA und Rußland spielen hier seit der Auflösung der Sowjetunion die Hauptrollen im neuen großen Spiel um die Zukunft der wichtigen Welt-energieregion in Zentralasien.

Die Unterschiede in der Außenpolitik liegen auf der Hand: Die Christdemokraten suchen den Schulterschluß mit den USA und die Festlegung klarer Grenzlinien, sozialdemokratische Außenpolitik gesteht Einflußzonen zu und konzipiert Grenzräume.

Dies erinnert an das „Great Game“ zwischen dem zaristischen Rußland und dem britischen Empire im 19. Jahrhundert in Zentralasien. Der damals geschaffene zwischenimperiale Raum am Khyber-Paß als Puffer zwischen den beiden Konkurrenten ist mit dem postimperialen Raum der ehemaligen Sowjetunion jedoch nicht zu vergleichen, der wegen der beiden im Westen liegenden Posten Transnistrien und Kaliningrad (Königsberg) kaum zum Puffer taugt, sondern sich zum „Unterlaufen“ einer möglichen Nato-Raketenabwehr in Ostmitteleuropa anbietet.

Ziel der USA ist es, die ehemalige Supermacht im Osten Europas zur „Regionalmacht“ herabzustufen, wie Präsident Obama vor wenigen Wochen erklärte, und die Energieproduzenten der Region in ihr Konzept für den „Großen Mittleren Osten“ zu integrieren. Obama bestätigt damit Peter Scholl-Latour, der 2006 darauf hinwies, die USA hätten die „Absicht, Moskau auf den Status einer zweitrangigen Macht zu reduzieren“. Das beste Mittel dafür ist, ihm das Monopol über den Energietransport aus der kaspischen Region zu entreißen. Rußland stemmt sich dem zwar entgegen, kann aber kaum die Herausforderung mit den USA bestehen, die schon für die Sowjet­union zu groß war – zumal die Fähigkeit auch der heutigen Kremlherren, sich öffentlichkeitswirksam als „die Guten“ zu präsentieren, gering ist und nur bei wenigen verfängt.

Die schärfste Offensivwaffe der USA im neuen Great Game ist die „demokratische Wertepolitik“. Sie trifft auf die deutliche Zustimmung beträchtlicher Teile der Bevölkerungen in den betroffenen Ländern. Das war so bei der Auflösung des Ostblocks und später beim Arabischen Frühling. Heute ist Wa­shington die „Hauptstadt der Revolution“, als „einzige Weltmacht“ verfolgt es seine Weltpolitik auf dem „Großen Schachbrett“ (Zbigniew Brzeziński) der Geschichte, abgesichert durch etwa 700 Militärstützpunkte in 150 Staaten. Ein Musterbeispiel dafür, wie Staaten dominante Zeitströmungen nutzen können, Entwicklungen zum Durchbruch zu verhelfen und zugleich Wasser auf die eigenen Mühlen zu lenken.

Verstärkt in Krisenzeiten verfügen die USA mit den ostmitteleuropäischen Staaten des „neuen Europa“ über eine Sperrminorität in der vom „alten Europa“ nur wirtschaftlich dominierten EU. Dies gilt insbesondere für die Rußlandpolitik der EU. Die Vereinigten Staaten haben sich mit ihrem Anti-Rußland-Kurs in der EU durchgesetzt. Polen spielte dabei gern den Juniorpartner. Nach den heimlich abgehörten und veröffentlichten Aussagen des polnischen Außenministers Sikorski scheint Warschau inzwischen aber nicht mehr so zufrieden mit dieser „Special relationship“ zu den USA. Vielleicht hat er erkannt, daß sich Westeuropa auf die Rolle der USA in einem osteuropäischen Cordon sanitaire verlassen und damit auch entsolidarisieren könnte. Eine konstruktivere Rolle des „Weimarer Dreiecks“ wäre so ein sicherheitspolitischer Dienst an Europa: Denn Großbritannien, einst zusammen mit den USA Unterzeichner des Budapester Abkommens und damit Garantiemacht für die Sicherheit der Ukraine, hält sich in Osteuropa inzwischen merklich zurück.

„Tatsächlich bestand und besteht die Herausforderung der Europäischen Union darin, daß sie auf der einen Seite mit einem postimperialen Raum konfrontiert war, in dem sich mit großer Geschwindigkeit alle die Konflikte und Instabilitäten entwickelten, die für postimperiale Räume typisch sind, während sich auf der anderen Seite die bislang als wohlwollender Hegemon agierende westliche Führungsmacht zunehmend in einen imperialen Akteur verwandelte, der auf die Wünsche und Vorstellungen seiner Verbündeten kaum noch Rücksicht nahm“, bemerkte der Berliner Politikprofessor Herfried Münkler 2005. Die Europäer hätten sich „ihrer politischen Marginalisierung zu widersetzen“ und um ihre „instabile Peripherie im Osten und Südosten“ zu kümmern, „ohne dabei in eine Spirale der Expansion hineingezogen zu werden“.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier kümmert sich. Vergangene Woche lud er seine Amtskollegen aus der Ukraine, Rußland und Frankreich zu einem Arbeitstreffen nach Berlin. Das Management der Ukraine-Krise trägt seine engagierte wie sozialdemokratische Handschrift: auf Moskau zuzugehen und so das Verhältnis zu Washington auszubalancieren. Daß er dabei immer und immer wieder von Putin düpiert wird, steht auf einem anderen Blatt. Die Wiederauferstehung des Außenamts fiel jedoch auf: Die FAZ widmete „Steinmeiers neuer Ostpolitik“ – die einen Nato-Beitritt der Ukraine aus- und eine Föderalisierung der Ukraine einschloß – eine Analyse (5. April); manche sehen sogar eine „neue deutsche Außenpolitik“ im Entstehen („Raus ins Rampenlicht“, Internationale Politik 7-8/2014).

2008 bereits hatte Steinmeier Rußland eine „Modernisierungspartnerschaft“ angeboten. Zwei Jahre früher wollte er für die EU eine neue Ostpolitik auf den Weg bringen. Jedesmal scheiterte Berlin damit. 2006 mußte die Bundesregierung angesichts des Widerstands des „neuen Europa“ „tatenlos zusehen, wie das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen zwischen Rußland und der EU nach und nach in sich zusammenbrach. (...) Die historische Wegkarte, die Deutschland zusammen mit Frankreich in bezug auf Rußland entworfen hatte, war unbrauchbar geworden“ (A. Rahr): „Letzten Endes erlaubten die neuen EU-Mitgliedsstaaten Deutschland nicht, eine europäische Ostpolitik für Rußland zu konzipieren.“

Im wirtschaftlichen Bereich gelang es dagegen, die Führungsposition auf dem russischen Markt zu etablieren: Inzwischen hat Deutschland in Rußland mehr investiert als die USA, China, Japan, Großbritannien, Frankreich und Italien zusammen. Sanktionen würden deshalb kein Land stärker treffen als Deutschland.

Heute versucht Berlin zu retten, was zu retten ist. Mehr „internationale Verantwortung“, wie der Bundespräsident auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Januar dieses Jahres vorschlug, um gegebenenfalls „auch militärisch einzugreifen“, gar ein besonderer „deutscher Moment“ zur Krisenbewältigung, wie die FAZ (17. März 2014) mutmaßte? Jedenfalls treten die Unterschiede sozial- und christdemokratischer Außenpolitik (wie schon beim letzten Irak-Krieg) konturiert hervor: im einen Fall eher die Konzidierung von Einflußzonen und die Konzeption von Grenzräumen, im anderen Fall eher der Schulterschluß mit den USA und die Festlegung klarer Grenzlinien.

Außenpolitiker wie Helmut Schmidt, Gerhard Schröder, Horst Teltschik und Henry Kissinger warnen den Westen davor, in der Krimkrise überzureagieren oder Putin als „neuen Hitler“ zu brandmarken, wie es jüngst die litauische Regierungschefin tat. Denn vor allem die westlichen Mitgliedsstaaten der EU huldigen weitgehend einer reinen Binnenperspektive, einem Nullsummenspiel am Konferenztisch, nicht der Bündelung von Kapazitäten, um in einer zunehmend multipolaren Welt mehr Handlungsfähigkeit zu erreichen.

Ohne die USA fehlt es Europa nach wie vor an Handlungsfähigkeit. Denn das Streben nach ihr würde „zu einer stärkeren Hierarchisierung der europäischen Entscheidungsstrukturen führen“ (Münkler), berührte also die Gleichheit aller Mitgliedsstaaten. Auch deshalb kooperierten EU-Staaten in Ostmitteleuropa lieber mit den USA und ermöglichen so die wachsende Hierarchisierung der US-dominierten Nato.

Hier Abhilfe zu schaffen setzte allerdings voraus, den binnenorientierten Blick zu korrigieren. Abschaffung der Wehrpflicht, Bundeswehrsoldaten als „Beamte in Uniform“ und „afrikanische Spiele“ sind auf deutscher Seite Symptome. Der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Harald Kujat schlug deshalb im Zuge der Krimkrise die Wiedereinführung der Wehrpflicht vor. Dies allein wäre jedoch noch kein Signal für „neues Denken“ und keine sicherheitspolitische Perspektive für Europa. Genausowenig wie lediglich mehr Geld für die Verteidigung.

Sinnvolle europäische Arbeitsteilung könnte so aussehen: Deutschland als zentrale Landmacht konzentriert sich auf Heer und Luftwaffe, die Atommacht Frankreich als Atlantik- und Mittelmeeranrainer auf Marine und nukleare Abschreckung.

Arbeitsteilung könnte hier helfen: So könnte Deutschland als zentrales Land in Mitteleuropa und Nicht-Nuklearmacht sich auf die Entwicklung von Heer und Luftwaffe konzentrieren, während Frankreich als Atlantik- und Mittelmeeranrainer und westeuropäische Nuklearmacht stärker auf Marine und atomare Abschreckung fokussiert. Kombinierte Korps und Flottillen könnten hier ihren Platz finden, sofern in sinnvolle Befehlsstrukturen eingebunden. Auch hier wäre Ergänzung besser als Gleichmacherei. Europa mit einer Außenpolitik des langen Atems, als „ehrlicher Makler“ Eskalationen verhindern und zu einem Interessenausgleich zwischen Ost und West beitragen, das wäre ein schöner Ausblick; wo nötig auch in Abgrenzung zu den USA, um in der EU so stärker das Gefühl für eine Schicksalsgemeinschaft wachsen zu lassen, das man, wie die Europawahlen zeigten, nicht erschaffen, zu dessen Wachsen man aber aktiv beitragen kann.

Realpolitik ist weniger attraktiv als Idealpolitik oder die Anrufung des Völkerrechts, des Vorrecht der Schwachen. Münkler spricht hier von der „labilen psychischen Verfassung der Bevölkerung in postheroischen Gesellschaften“. Dies dürfte sich so schnell nicht ändern, ein tiefgreifender Mentalitätswandel dauerte Jahrzehnte.

Damit stellen sich zentrale Fragen: Wird die Krimkrise zu strukturellen Fortschritten in der Sicherheitspolitik der EU führen? Welche Auswirkungen hat die Krimkrise auf das „neue Europa“? Was fehlt, ist der Wille, die europäische Sicherheitsidentität zu stärken. „Menschenrechte“ und „Völkerrecht“ können die Europäer auch, letzteres sogar besser als die USA. „Soft power“ aber ist zuwenig – gerade in „Zwischeneuropa“ mit seinen historischen Erfahrungen mit Rußland und Deutschland. Dies erklärt weitgehend die starke Position, die sich die USA dort geschaffen haben, die aber in Zukunft stärker auf China und den Pazifik schauen werden. Möglicherweise wendet sich Rußland stärker China und Asien zu.

Bliebe ein teuer erkaufter russischer Gewinn: Die Krim hat Rußland zwar gewonnen, die Ukraine aber hat es verloren. Doch zunächst einmal hat es am Schwarzen Meer eine starke Position gewonnen und verhindert, daß dieses ein Nato-Binnenmeer wird. Eine Situation wie nach dem verlorenen Krimkrieg im 19. Jahrhundert, als das Russische Reich seine dortige Flotte abwracken mußte. Pläne des britischen Premierministers Palmerston, die Krim von Rußland abzutrennen und den Völkern des Kaukasus die Unabhängigkeit zu geben, wurden damals nicht verwirklicht. Andernfalls hätte dies die weitere Geschichte Europas einschneidend beeinflußt.

 

Dr. Peter Michael Seidel, Jahrgang 1956, arbeitet als Public-Affairs-Berater und Publizist in Frankfurt am Main.

Foto: Außenminister Frank-Walter Steinmeier: Deutschland als Sachwalter Europas

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