© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/14 / 18. Juli 2014

Konfusion am Hindukusch
Afghanistan: Angesichts der Eskalation der Gewalt und der Uneinigkeit der Politikerkaste steht der Westen vor einem Trümmerhaufen
Marc Zöllner

Es waren die folgenschwersten Anschläge seit dem Sturz der Taliban, welche Anfang Juli die afghanische Hauptstadt Kabul erschütterten: Unzählige Laster und Tankkraftwagen, voll gefüllt mit Benzin, standen nach dem Angriff Aufständischer auf einen Parkplatz außerhalb der Stadt in Flammen.

Gleichzeitig vermeldete auch der Flughafen Kabuls Gefechte. Mutmaßliche Taliban hatten dort mehrere Hangars sowie die Landebahn beschossen. Neben zwei Fliegern der afghanischen Armee zerstörte eine Rakete auch die „Air Force One Afghanistans“, den Helikopter des Präsidenten Hamid Karsai.

Mit den zeitgleichen Angriffen bewies die radikalislamische Taliban nicht nur, daß ihr langer Arm auch nach dreizehn Jahren Krieg gegen die Nato sowie die Regierung in Kabul noch immer bis in den hohen Norden des Landes reicht. Sie signalisierte Karzai ebenso, was er seit 2001 als Präsident für Afghanistan bislang erreicht hat: nichts.

Noch nie zeigte sich die Sicherheitslage am Hindukusch derart prekär. Allein bis Juni starben der Uno-Mission in Afghanistan zufolge dieses Jahr 1.564 Zivilisten; rund 17 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Selbstmordanschläge, Sprengfallen sowie Angriffe von Aufständischen reißen immer wieder westliche wie afghanische Soldaten in den Tod. Allein am 14. Juni, dem Tag der Stichwahl für den neuen Präsidenten, zählten Beobachter über 250 Tote.Unter ihnen befanden sich Wahlhelfer und Sicherheitskräfte, aber auch Wähler. Insbesondere in den Talibanhochburgen im Süden häuften sich überdies Berichte von Bürgern, denen der rechte Zeigefinger abgeschnitten wurde. In Afghanistan hatte es sich vorab etabliert, diesen nach erfolgtem Urnengang mit Tinte blau zu färben, um Wahlbetrug und Mehrfachwahl effektiv zu verhindern.

Hinzu kommt eine innenpolitische Krise, welche Afghanistan kürzlich erneut an den Rand des nächsten Bürgerkriegs zu drängen drohte: Zwar hatten sich im ersten, Anfang April abgehaltenen Wahlgang mit dem ehemaligen Außenminister Abdullah Abdullah sowie dem Finanzminister Aschraf Ghani Ahmadsai zwei klare Favoriten aus der Masse der elf Kandidaten herauskristallisiert. Die absolute Mehrheit jedoch konnte niemand für sich beanspruchen. Mit rund 45 Prozent der Stimmen führte Abdullah vor Ghani mit 31 Prozentpunkten. Bei der Stichwahl diesen Juni drehten sich jedoch die Mehrheitsverhältnisse und Ghani reklamierte gut 56 Prozent der Wählerstimmen für sich.

Doch die afghanische Wahlbehörde sprach von „massiver Manipulation“ und bat beide Kandidaten, sich sowie ihre Anhänger zurückzuhalten, bis das Ergebnis endgültig feststünde. So lange wollte sich Abdullah nicht mehr gedulden. „Das afghanische Volk übt Druck auf mich aus, seine gewählte Regierung zu verkünden“, verkündete Abdullah den vor dem Parlament versammelten Demonstranten, die mittlerweile Barrikaden und Straßensperren errichtet hatten. Keinen Zweifel ließ er daran, daß er bereit sei, seinen Machtanspruch notfalls auch mit Gewalt durchzusetzen. „Das Gesicht Afghanistans kann sich auf mein Signal hin verändern!“ drohte Abdullah seinem politischen Kontrahenten Ghani, welchen er mit Karsai in Verschwörung verdächtigte. Keine leere Drohung, denn hinter Abdullah stehen insbesondere die gut gerüsteten Minderheiten im Norden des Landes, während Ghani vor allem die verarmten Paschtunen aus dem Süden hinter sich weiß.

So ernst war die Lage, daß US-Außenminister John Kerry nach Kabul reiste, um zwischen den beiden Widersachern zu vermitteln. Erst nach der Drohung, sämtliche internationalen Wiederaufbau- und Militärhilfen einzufrieren, fand sich eine Lösung. „Wir werden alle Stimmen noch einmal auszählen“, verkündete Kerry erschöpft. Die für den 2. August geplante Amtseinführung des neuen Präsidenten dürfte sich damit weitere Wochen verzögern. Ein Ende der Gewaltspirale ist somit nicht in Sicht.

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