© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

Dorn im Auge
Christian Dorn

Auf dem Bildschirm erscheint der Nationalspieler und frischgebackene Fußball-Weltmeister Jérôme Boateng mit einem Mikro in der Hand, den Hunderttausenden deutschen Fußballfans vor dem Brandenburger Tor entgegenrufend: „Ich kann euch nicht hören!“ Um der von ihm geforderten Huldigung Nachdruck zu verleihen, formt er die andere Hand zu einer Ohrmuschel – ich habe derweil das immer gleiche Bild der deutschen Mannschaft vor Spielbeginn beim Singen der Nationalhymne vor Augen und sage unwillkürlich zu dem Fernsehbild vor mir: Ich hab dich da noch nie gehört.

Der öffentliche Raum guckt in die Röhre. Auf dem Trottoir immer wieder dasselbe Bild: ausgesetzte Röhrenfernseher und alte Computerbildschirme, Babyklamotten, Lexika des Marxismus/Leninismus oder eine – vom Autor mit handschriftlicher Widmung versehene – Biographie des letzten DDR-Auswahltrainers Bernd Stange. Ist es die trostlose Materialität metaphysischer Obdachlosigkeit?

Oder ist es inversive Wirklichkeit? Beim nächsten Spaziergang treffe ich auf eine Trias ausgesetzter Buchtitel, denen – scheint mir – eine Besonderheit eigen ist, als wollten sie durch ihre stumme Existenz das Phänomen des magischen Realismus unter Beweis stellen: Neben der 1939 in der Schweiz veröffentlichten Darstellung „Paulus, der Christus-Eingeweihte“ ist es der exakt vor zwei Jahrhunderten veröffentlichte Märchenroman „Der goldne Topf“ E.T.A. Hoffmanns, dessen Lektüre mich automatisch in den Bann zieht. Das dritte Buch, wie der „Topf“ ein gelber Reclam-Titel, ist nichts weniger als das „Gespräch über das Seinkönnen“ von Nikolaus von Cues – wie zur Beglaubigung beginnt just in der Sekunde, da ich diesen Titel erwähne, im Deutschlandfunk der erste Teil einer Portrait-Serie über den vor 550 Jahren gestorbenen Religionsphilosophen, Rechtshistoriker, Kardinal und Universalgelehrten Nikolaus von Cues (Nicolaus Cusanus).

In der U-Bahn abends vier Berlin-Touristinnen, offenbar „Best-Agerinnen“. Plötzlich stürmen zwei Dutzend schnatternde und kreischende italienische Teenager den Wagen. Schon der Anblick der gleich einsetzenden Invasion läßt die Damen kollektiv aufstöhnen, bis sich die eine von denen, direkt neben mir, die jungen Dinger mit ihren Blicken fixierend, besinnt und vor sich halblaut sinniert: „Ich würde mit denen tauschen, auf der Stelle.“

Black Out Box: Wer attestiert jetzt den lupenreinen Abschuß?

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