© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

Nation und Europa
Angst vor dem Volk
Konrad Adam

Das auffälligste und folgenreichste Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament war das Erstarken derjenigen Parteien, die dem rechten Spektrum zugeschlagen werden. Das Urteil ist zwar ungenau, weil die programmatischen Unterschiede zwischen der deutschen AfD, der britischen Ukip und dem französischen Front National mindestens ebenso groß sind wie die zwischen den verschiedenen Flügeln der parlamentarischen Linken; tatsächlich haben sich ja auch die einen genausowenig wie die anderen zu einer gemeinsamen Fraktion zusammenschließen wollen. Aber wie immer man die verschiedenen Gruppen, Parteien oder Sekten der rechten oder der linken Seite zuordnen will: daß sich die Mehrheitsverhältnisse verschoben haben, liegt auf der Hand und wird natürlich Folgen haben. Die Kritiker des bisherigen Konsenses, der auf Erweiterung und Vertiefung setzte, haben Zulauf erhalten, und zum ersten Mal wird es im Straßburger Parlament das geben, was ein Parlament zum Parlament macht: eine handfeste Opposition.

Was die Mitglieder dieser Opposition bei allen Unterschieden in Einzelfragen miteinander verbindet, ist ihre Abneigung gegen den ungezügelten Machtanspruch der Brüsseler Zentrale und, daraus folgend, der Wunsch, mit dem Subsidiaritätsgebot, das endlos beschworen, aber selten beachtet wird, ernst zu machen. Tut man das, will man der kleinen Einheit also Vorrang vor der großen einräumen und die Kompetenzen dort ansiedeln, wo sie am besten aufgehoben sind, wird man dem britischen Premier David Cameron zuneigen und für eine Repatriierung, die Rückführung verlorener Zuständigkeiten eintreten. Das Vertraute soll dem Unbekannten, das Reale dem Möglichen, das Eigene dem Fremden vorgezogen werden. Cameron hat das selbst klargestellt, als er in seiner Reaktion auf das für ihn und seine Tories enttäuschende Wahlergebnis die „britischen Werte“ beschwor. Wer sich an die Versuche radikaler Islamisten erinnert, unter den Schulkindern von Birmingham Kämpfer für ihren Feldzug gegen westliche Werte zu gewinnen, der weiß, wofür die englische Regierung eintritt. Und wogegen.

In Deutschland tut man sich mit ähnlichen Reaktionen schwer. Die Schatten des Dritten Reiches liegen über dem Land und werden dank einer Geschichtspolitik, die eine lange und wechselvolle Vergangenheit auf die bekannten zwölf Jahre zu verkürzen sucht, um so tiefer, je weiter diese Zeit zurückliegt. Deutsche Werte gelten nicht mehr viel; und wirklich geben diejenigen, die sich öffentlich voller Stolz zu diesen Werten bekennen, in aller Regel wenig Anlaß, stolz auf sie zu sein. Seitdem der türkische Ministerpräsident Erdoğan seine hier lebenden Landsleute, immerhin drei Millionen, dazu aufgerufen hat, sich der Integration zu verweigern, auch unter Deutschen Türken zu bleiben, seine AKP als ihre angestammte Heimat und ihn als ihren wahren Herrscher zu betrachten, hat sich das Klima allerdings verändert. Denn jetzt müssen sich auch die Deutschen fragen, welche Werte sie diesen genuin türkischen Wertvorstellungen entgegensetzen wollen – vorausgesetzt, sie meinen es mit ihrer Integrationsrhetorik ernst.

Bisher kam die Antwort nur zögerlich und wenn, dann ziemlich leise. Die Deutschen hatten sich daran gewöhnt, das Eigene wenn schon nicht für gefährlich, so doch für verdächtig und jedenfalls für überflüssig zu halten. Verfassungspatriotismus war das Äußerste, was sie sich zugestehen wollten; und Nationales gab es für die meisten von ihnen nur in der Kümmerform eines DM-Nationalismus: zwei Krücken, die nicht weit getragen haben. Sollte es den von Habermas zu Recht verspotteten DM-Nationalismus tatsächlich einmal gegeben haben, so hatte er mit der Einführung des Euro ausgedient. Dolf Sternbergers Verfassungspatriotismus hilft den Deutschen auch nicht mehr viel weiter, seit die vom Grundgesetz gewollte Ordnung immer seltener greift, weil alle möglichen Kompetenzen von Berlin nach Brüssel übertragen worden sind. Die Masse der für uns gültigen Gesetze, Richtlinien und Verordnungen kommt ja schon längst nicht mehr aus dem Bundestag, sondern aus irgendwelchen Brüsseler Büros. Die europäische Wirklichkeit hat die geschriebene Verfassung so weit überholt, daß selbst das durchweg europafreundlich urteilende Bundesverfassungsgericht vorsorglich von der roten Linie sprach, deren Überschreiten die Neukonstitution der Bundesrepublik erforderlich machen könnte.

Die Deutschen sollen eine Währung lieben, die von ihnen verlangt, fremder Staaten Rechnungen in unbegrenzter Höhe zu bezahlen, und sie reden vom Straßburger Parlament, als sei es eine Volksvertretung von gleichem Rang wie der Deutsche Bundestag.

Überrascht und irritiert vom Gang der Dinge, haben die Deutschen den Versuch gemacht, ihren Verfassungspatriotismus und ihren Währungsmoralismus auf Europa zu übertragen. Das führt zu sonderbaren Konstellationen. Sie sollen eine Währung lieben, die von ihnen verlangt, fremder Staaten Rechnungen in unbegrenzter Höhe zu bezahlen, und fühlen sich dazu verpflichtet, Europa eine Verfassung anzudichten, die es ganz offensichtlich nicht besitzt. Sie reden vom Straßburger Parlament, als sei es eine Volksvertretung von gleichem Rang und gleicher Legitimation wie der Deutsche Bundestag, und tun so, also wäre der Euro eine ebenso stabile Währung wie die Deutsche Mark. Was ihnen das eigene Land nicht bieten will, erwarten sie von der Union und leben im Namen Europas Gefühle aus, zu denen sie sich im deutschen Namen nicht mehr zu bekennen wagen.

Die hysterische Wendung, mit der Angela Merkel die gemeinsame Währung verteidigt hat – „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ – wäre bei unseren Nachbarn als durchsichtige Übertreibung abgetan worden; nicht so in Deutschland. Den Deutschen spricht so etwas aus dem Herzen, weil es ihre heimatlos gewordene Sehnsucht nach dem Kollektiv, nach Halt und Bindung, nach Einsatz für das Große und das Ganze stillt. Auch sie wollen sich begeistern, mit irgendwem zusammenhalten und im Verein mit anderen etwas zustande bringen, was die Kräfte des einzelnen übersteigt – auch dann, wenn gerade einmal nicht Fußballweltmeisterschaft ist.

Wahrscheinlich sind die Deutschen das einzige Volk in Europa, das den Nationalismus nicht nur verpönt, sondern auf den Kopf gestellt, ins Negative gewendet und in einen kämpferischen Anti-Nationalismus umgebogen hat. Einer Familienministerin, die öffentlich erklärt, es sie ihr „wurscht“, ob die Deutschen ausstürben oder nicht, klatschen sie Beifall, und einem Mob, der mit dem Ruf „Nie wieder Deutschland“ lärmend durch die Straßen zieht, bescheinigen sie kritisches Urteilsvermögen und die Bereitschaft, aus der Geschichte zu lernen. Da ihnen der Rückgriff auf alles, was deutsch klingt, suspekt vorkommt, flüchten sie sich in ein Dogmengebäude, das die taz, das Sprachrohr der Post- und Anti-Nationalen, treffend als „umgekehrten Rassismus“ bezeichnet hat. Das deutsche Volk, so heißt es dann, habe sein Daseinsrecht verwirkt und sei moralisch dazu verpflichtet, auszusterben. Das positive Gegenstück zu dieser Art von Selbsthaß stellt das emphatische Bekenntnis zu Europa dar. Der aufgeklärte Deutsche setzt seinen Glauben, seine Liebe und seine Hoffnung auf die Europäische Union und vertritt diese Überzeugung um so leidenschaftlicher, je weniger sie Anhalt in der Wirklichkeit findet.

„We the People“ lauten die ersten Worte der Verfassungsurkunde, mit der sich die Amerikaner als eigene, unabhängige, gleichberechtigte Nation konstituierten. Deutschen Politikern klingt das verdächtig in den Ohren. Sie sind mißtrauisch gegen das Volk, den großen Lümmel, und haben Angst vorm Populismus, auch wenn sie nicht sagen können, was einen Populisten denn nun ausmacht, warum er so gefährlich sein soll und wie er sich von anderen, zumal von ihnen selbst, den wahren, echten, guten Demokraten unterscheidet. Nur eins ist ihnen sonnenklar: daß man das Volk, das deutsche jedenfalls, nicht fragen darf, auch wenn das Grundgesetz es so gewollt hat, als es bestimmte, daß alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht und von ihm „durch Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt werden soll: Volksabstimmungen! Nicht nur in der Schweiz, auch in Ägypten werden die Bürger gefragt, wenn die Verfassung geändert oder ergänzt werden soll; nur nicht in Deutschland. Die Deutschen sind für so etwas nicht reif genug, zu wankelmütig oder zu dumm.

Das demokratische Defizit der Gemeinschaft wird gern beklagt, aber ungern beseitigt. Es wird sich auch so lange nicht beheben lassen, wie der Union das fehlt, was eine Demokratie braucht, um lebendig zu werden: das Volk also, das es auf europäischer Ebene nicht gibt.

Statt sie zu fragen, was sie vom ewigen „Weiter so!“ der Berufseuropäer halten, werden sie von ihren Vormündern mit Leerformeln abgespeist, die vom Regieren ohne Staat, von einer Demokratie ohne Völker und der Zivilgesellschaft ohne Bürger raunen. Die SPD läßt immerhin erkennen, wohin sie will, wenn sie die alte Formel vom Europa der Bürger durch den moderneren Ruf nach einem Europa „für die Menschen“ ersetzt. So wird der Bürger mit seinen Rechten und seinen Pflichten, eine genuin europäische Erfindung, im Namen Europas ausrangiert; mit ihm zusammen leider auch die Demokratie, die ohne Bürger nun einmal nicht auskommt.

Gewiß, „Das Wir entscheidet“, wie die SPD im Wahlkampf plakatierte. Nur haben die Menschen, bedingt durch Herkunft, Bildung und Geschmack, von diesem „Wir“ höchst unterschiedliche Vorstellungen, die sich, wenn überhaupt, nur mit der Zeit annähern, vereinheitlichen, „harmonisieren“ lassen. Die Bewohner der ehemals englischen Kolonien hatten diese Zeit längst hinter sich, als sie übereinkamen, sich zu den Vereinigten Staaten von Amerika zusammenzutun. Sie wußten, was sie miteinander verband, und waren entschlossen, sich gegen die Übergriffe des Parlaments und gegen den Machtanspruch eines fremden Königs zu wehren. Aber was verbindet die Staaten und Völker Europas? Wo zeigt sich ihr gemeinsamer Wille? Wie können sie die Zentralmacht daran hindern, immer mehr Kompetenzen an sich zu ziehen, ohne die Bürger auch nur zu fragen? Und was können sie tun, um die demokratischen Formen, die den Berufseuropäern nicht fremd sind, mit demokratischer Substanz zu füllen?

Das demokratische Defizit der Gemeinschaft wird gern beklagt, aber ungern beseitigt. Es wird sich auch so lange nicht beheben lassen, wie der Union das fehlt, was eine Demokratie braucht, um lebendig zu werden: das Volk also, das es auf europäischer Ebene nicht gibt: Ohne das Volk bleibt von der Volks-Herrschaft eben nur die Herrschaft übrig. Noch viel ausschließlicher als in Berlin und anderswo liegt diese Herrschaft auf europäischer Ebene in den Händen der Parteien. Und weil es die Parteien sind, die das so eingerichtet haben und die von diesem Zustand profitieren, werden sie alles tun, um nichts zu ändern. Juncker und Schulz, die beiden Spitzenkandidaten, sind Geschöpfe der Parteien und werden ihre Ämter so führen, wie sie es als Parteisoldaten gelernt haben, die Macht also in Brüssel konzentrieren und möglichst wenig von ihr dorthin zurückgeben, woher sie stammt.

Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, heißt es im Grundgesetz – um dorthin niemals mehr zurückzukehren, wie ein ironisch begabter Zeitgenosse fortfuhr. Ist es übertrieben, nach all den Phobien, die uns aufgedrängt oder nachgesagt worden sind, von Demophobie, von Angst vor dem Volk zu sprechen?

Thomas Jefferson, der dritte und nachdenklichste Präsident der USA, hat diese Entwicklung vorausgeahnt. Er war besorgt über das Auseinanderfallen von oben und unten, von Wählern und Gewählten, und fürchtete eine auf Wahl beruhende Despotie, wie er sie nannte, nicht weniger als einen Rückfall in die nackte Tyrannei. Wir alle, schrieb er in einem Brief an einen befreundeten Politiker, „Sie und ich, der Kongreß und die Parlamente, die Richter und die Gouverneure, werden zu reißenden Wölfen werden, wenn das Volk je aufhören sollte, sich um die öffentlichen Angelegenheiten zu kümmern“.

Eben dazu scheinen die Bürger Europas aber immer weniger Zeit und Lust zu haben; sie betrachten die Politik als einen fernen und fremden Beruf, wenden sich ab und widmen sich ihrem eigenen. „Ihr macht in der Politik, was ihr wollt. Wir machen auch, was wir wollen“, wie Horst Seehofer die Stimmung im Land anschaulich beschrieben hat.

Schon vor Jahren beklagte der damalige Präsident des Europäischen Parlaments, der Deutsche Klaus Hänsch, das mangelnde Interesse an Europa; die schwache Wahlbeteiligung ist dafür nur ein Zeichen unter vielen. Wer dem entgegenwirken will, sollte die Machtverhältnisse so ordnen, daß sie die Bürger zur Mitwirkung verlocken und die Politiker dazu einladen, es dem französischen Präsidenten nachzutun, der sich einem der zahlreichen Übergriffe aus Brüssel mit der Bemerkung widersetzte: „Das entscheiden wir selbst!“ Wir, das sind die Bürger und die von ihnen gewählten Volksvertreter.

 

Dr. Konrad Adam, Jahrgang 1942, Publizist, war Feuilletonredakteur der FAZ und bis 2007 Chefkorrespondent der Welt. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über den Mindestlohn („Weil der Markt es nicht schafft“, JF 16/14).

Foto: Für „die Menschen“: Ohne Volk bleibt von der Volks-Herrschaft nur die Herrschaft übrig

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