© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  31-32/14 / 25. Juli 2014

Gemetzel mit dem Maschinengewehr
Vor 110 Jahren zogen britische Kolonialtruppen zu einer blutigen Expedition nach Tibet
Wolfgang Kaufmann

Zwischen 1865 und 1895 expandierte das Zarenreich in Richtung Zentralasien, was in London und Kalkutta mit äußerstem Argwohn verfolgt wurde, da damit die Nordflanke Britisch-Indiens bedroht schien. Infolgedessen entspann sich ein Konflikt um die Vorherrschaft über das Innere Asiens – „Great Game“ genannt. In diesem Ringen erlangte vor allem Tibet Bedeutung, weil es zum einen direkt an die britischen Besitzungen in Indien grenzte und zum anderen massiv unter russischen Einfluß zu geraten schien. Immerhin pendelte der burjatische Lama Agvan Dorziev, dem man Verbindungen zum zaristischen Geheimdienst nachsagte, seit 1898 ständig zwischen Sankt Petersburg und der tibetischen Hauptstadt Lhasa hin und her.

Dies nährte auf britischer Seite den Verdacht, daß Rußland und Tibet gegen das Empire konspirierten. Deshalb versuchte der indische Vizekönig Lord George Curzon stärkeren Einfluß auf den Himalaya-Staat zu nehmen, um ein diplomatisches Gegengewicht zu schaffen. Allerdings war der damals herrschende 13. Dalai Lama Thubten Gyatso nicht einmal bereit, Curzons Schreiben entgegenzunehmen, wobei er sich auf die formelle chinesische Oberhoheit über Tibet berief.

Dergestalt brüskiert und zudem noch durch Berichte über angebliche Waffenlieferungen der Russen an Lhasa alarmiert, erwirkte Curzon Anfang 1903 die Genehmigung Londons, eine „Handelsmission“ nach Khampa Dzong zu entsenden, das an der Grenze zwischen Tibet und dem britischen Einflußbereich lag. Mit der Leitung des Unternehmens wurde Major Francis Edward Younghusband betraut, ein hervorragender Kenner der Gebirge und Hochebenen Asiens. Ihm zur Seite stand Brigadegeneral James R. L. Macdonald, der eine militärische Eskorte kommandierte, welche schnell von 200 auf 3.000 Mann anwuchs, dazu kamen 7.000 Träger und Diener.

Im Juli 1903 traf der Troß in Khampa Dzong ein, wo ein tibetischer General mit 1.500 Soldaten wartete und die Briten zum Rückzug aufforderte. Daraufhin entspannen sich langwierige Verhandlungen, die im März 1904 ergebnislos endeten. Deshalb marschierten Younghusband und Macdonald weiter in Richtung der 200 Kilometer entfernt liegenden tibetischen Stadt Gyantse, um dort im Einklang mit den Instruktionen Curzons einen Handelsstützpunkt zu errichten.

Kurz darauf kam es bei Chumik Shenko zu einem ersten Gefecht zwischen britischen und tibetischen Truppen, das der mitreisende Times-Korrespondent Percival Landon folgendermaßen charakterisierte: „Es war nicht so sehr ein Kampf, sondern eine Schlächterei.“ Etwa 700 der nur mit Lanzen oder Steinschloßgewehren ausgestatteten Mönchssoldaten des Dalai Lama starben im Maschinengewehrfeuer der Briten – vergeblich darauf hoffend, daß ihre vom Dalai Lama gesegneten Amulette sie vor den Kugeln der Feinde schützten. Nach einigen weiteren Gemetzeln dieser Art, darunter auch auf dem 5.700 Meter hohen Paß Karo La, erreichten die Briten am 12. April Gyantse.

Daraufhin zeigte sich Thubten Gyatso nun doch zu Verhandlungen bereit, wozu weiterhin beitrug, daß der Maharadscha von Nepal, Jang Bahadur Rana, ihm die erbetene militärische Unterstützung verweigert hatte und Rußland seit Februar in einem verlust-reichen Krieg mit Japan steckte. Doch Younghusband und Macdonald waren mittlerweile zu der Ansicht gekommen, daß substantielle Verhandlungen nur in Lhasa geführt werden könnten und rückten mit Zustimmung Londons in die tibetische Hauptstadt vor, wo sie am 3. August 1904 ohne nennenswerten Widerstand einzogen. Der Dalai Lama hatte sich inzwischen jedoch in die Mongolei abgesetzt.

Also führten der Abt des Klosters Ganden, welcher nun als Regent fungierte, sowie der chinesische Statthalter Yu-Tai und hochrangige Vertreter der tibetischen Nationalversammlung die Gespräche mit Younghusband und dessen rechter Hand Frederick O’Connor. Am Ende stand der Vertrag vom 4. September 1904, dessen Inhalt die mit Waffengewalt geklärten Machtverhältnisse widerspiegelte und eher eine Kapitulationsurkunde darstellte: Tibet verpflichtete sich zu einem „Schadensersatz“ von 562.000 Pfund, der in 75 jährlichen Raten zu zahlen war – als Garantie für die Einhaltung dieser Abmachung besetzten die Briten das Chumbi-Tal in Südtibet. Außerdem sollten alle Festungen nördlich der britisch-indischen Grenze geschleift werden. Und dann war da noch der Passus, in dem Tibet auf jedwede Verhandlungen mit fremden Mächten verzichtete, weil es sich nach wie vor als Teil des chinesischen Kaiserreiches betrachtete.

Damit schien der russische Einfluß auf die Himalaya-Theokratie zuverlässig abgewendet, allerdings um den Preis einer britisch-tibetischen Entfremdung, die keine der nachfolgenden Wohltaten, welche das Empire dem nördlichen Nachbarn Indiens aus später Einsicht erwies, vollkommen aus der Welt schaffen konnte, immerhin waren an die 3.000 Tibeter zusammengeschossen worden. So führte die Erinnerung an das brutale Vorgehen der Briten im Jahre 1904 – welches in der Geschichtswissenschaft allerdings sehr viel weniger Beachtung findet als die deutsche Niederschlagung des Herero-Aufstandes im gleichen Jahr – nicht zuletzt dazu, daß die Tibeter 1939 sehr zum Ärger Londons entschieden, der SS-Expedition von Ernst Schäfer die Einreise zu erlauben. Die darauf folgenden inoffiziellen diplomatischen Gespräche endeten damit, daß der neue Regent, der während der Minderjährigkeit des 14. Dalai Lama die Geschicke Tibets lenkte, anbiedernde Schreiben an Hitler richtete.

 

Dr. Wolfgang Kaufmann ist Autor des Buches „Das Dritte Reich und Tibet“ (Ludwigsfelder Verlagshaus, 3. Auflage 2012)

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen