© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/14 / 08. August 2014

Pankraz,
Ch. Geyer und das hüpfende Kanguruh

Es bleibt dabei: Der unterschenkelamputierte Markus Rehm (25), „das hüpfende Känguruh“, wie ihn neidische Konkurrenten inzwischen titulieren, darf bei den Leichtathletik-Europa-meisterschaften nächste Woche in Zürich nicht antreten. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) hat eine definitive Entscheidung getroffen. Ein Sprecher des Verbands erklärte: „Technische Hilfsmittel sind bei unseren Wettbewerben nicht erlaubt, auch für Behinderte nicht. Es geht ja auch nicht, daß zum Beispiel ein Behinderter im motorgetriebenen Rollstuhl beim Marathonlauf mitmacht.“

Die Diskussion, die sich um den Fall Rehm entwickelt hat, wird aber wohl nicht so schnell aufhören, „sie beginnt gerade erst“, wie Karl Quade, Vizepräsident des Deutschen Behindertensportverbandes, voraussagt. Denn Quade zufolge wird nun wahrscheinlich auch der ebenfalls unterschenkelamputierte Rheinländer Felix Streng, ein Top-Läufer über die Strecken 100 und 200 Meter, bei den regulären nationalen Wettkämpfen mitmischen wollen, und es sollte ihn, Quade, nicht wundern, wenn auch Streng Spitzenpositionen erobern würde.

Markus Rehm war während der letzten deutschen Leichtathletik-Meisterschaften bei den Weitspringern gestartet – und hatte den Wettbewerb mit der phantastischen Weite von 8,24 Metern gewonnen, trotz seiner Prothese, sagen die einen, nein, gerade wegen seiner Prothese, sagen die anderen. Die Prothese habe, im Gegensatz zu dem starren naturgegebenen Unterschenkel, einen eminenten Feder-Effekt gehabt, und Rehm habe diesen Effekt planvoll genutzt.

Pankraz würde sich in der Debatte spontan auf die Seite des Leichtathletik-Verbandes stellen. Wo kämen wir denn hin, wenn künftig jeder Athlet mit irgendeiner exklusiven technischen Gerätschaft anträte! Für so etwas gibt es doch Autorennen, Schußwaffen, Wurfmaschinen. Athletik hingegen, ob Leicht- oder Schwerathletik, ist und war immer schon „Handarbeit“, spielerisches Messen natürlicher Kräfte und Veranlagungen. Die „Geräte“, die man dazu benutzte und benutzt, Speere, Disken, Hebegewichte, müssen für alle Teilnehmer gleich sein, andernfalls würde ja der Sinn des Spiels verfälscht!

Beim weiteren Bedenken der Sache kommen einem allerdings Skrupel. Sport ist eine ernste Angelegenheit. Es geht, außer um Sieg oder Niederlage, um Ruhm, Geld, oft auch um politischen Einfluß. Angesichts solcher Aspekte empfanden sich offenbar schon die allerersten Sportler im alten Griechenland ganz überwiegend als „Behinderte“, auch die kraftstrotzendsten und durchtrainiertesten. So soffen sie Stierblut und fraßen Löwenhoden und ließen sich außerden von lokalen Priestern gewissermaßen geistig aufrüsten. Von bloßem Muskelspiel also konnte kaum die Rede sein.

Heute schluckt man statt Stierblut Anabolika und läßt sich manchmal sogar schon sogenanntes „Anti-Myostatin“ unter die Haut spritzen. „Gendoping“ nennt man das. Das ist zwar kein physikalisch-technischer Vorgang, sondern ein chemisch-biologischer, aber läßt sich da in Hinsicht auf „Behinderung“ wirklich ein Unterschied erkennen? Man muß wohl im Gegenteil konstatieren: Gendoping an Athleten ist letztlich viel „unnatürlicher“, „künstlicher“, als noch die raffinierteste Hüpfprothese à la Rehm und Streng je sein könnte. Es ist richtig unheimlich.

Myostatin ist ein Protein, das im menschlichen oder tierischen Körper gebildet wird, um das Muskelwachstum zu regulieren. Es hemmt das Muskelwachstum, wenn und wo es für den Gesamt-organismus gefährlich wird. Die neu entwickelten Anti-Myostatine nun, Follistatin etwa, machen die Myostatine weitgehend unwirksam. Den Strategen des Gendoping im Sport geht es also nicht um Myostatingaben; wenn sie den Athleten Anti-Myostatinmittel verpassen, dann wird deren Muskelaufbau nicht mehr natürlich kontrolliert, und man kann ihn, je nach Sportart, an den gewünschten Stellen fast beliebig „optimieren“.

Versuche an Labormäusen haben jedenfalls bereits zu schönen Erfolgen geführt in Gestalt von Riesenmäusen, die ihre myostatinhaltigen, normal bemuskelten Mitmäuse im Handumdrehen vom Futternapf verdrängten. Der Athlet unserer Tage als Riesenmaus ohne Muskelbremser – dieses Horrorbild steht zur Zeit als Real-utopie am Horizont des modernen Sports. Dagegen verblassen alle bisher bekannten „Dopingsünden“ geradezu, das künstliche Hormon zur Bildung zusätzlicher roter Blutkörperchen ebenso wie die Eigenblut-Therapie, nicht zu reden vom Heer der Schmerzpillen, Antibiotika, Herzfrequenzregulierer.

Christian Geyer von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung merkte kürzlich à propos der Affäre Rehm an, daß wir eines gar nicht so fernen Tages allesamt „wie Rehm herumlaufen werden. Ob nun mit einem Implantat im Ohr, einem Chip im Gehirn, einer Prothese in den Gliedmaßen – alle diese technischen Stützvorrichtungen, jetzt noch im klinischen Feld getestet, werden künftig zu den üblichen Lebenshilfen zählen wie Brillen. Und sie werden die Unterschiede zwischen den Menschen zu einer vernachlässigbaren Größe machen.“

Das freilich, findet Pankraz, ist schlimmster Pessimismus, und der gemütliche, ganz unapokalyptische Ton, in dem er vorgetragen wird, macht die Sache nur noch schlimmer. Wenn zwischenmenschliche Differenzierung als vernachlässigbare Größe annonciert wird, ist höchste Alarmstufe angesagt. Glücklicherweise ist es noch nicht soweit. Gerade der Umstand, daß der Sport in unseren Tagen so wichtig geworden ist und sich auf so viele Lebensbezirke ausdehnt, läßt hoffen. Denn der Sport ist in jeder Beziehung Instrument und Hochsymbol der Differenzierung, kennt Sieger und (mag sein: zeitweilig) Unterlegene.

Die Entscheidung des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, Markus Rehm die Teilnahme an der Europameisterschaft in Zürich zu versagen, war richtig. Künftig sollte aber gelten: Im Sport haben weder hüpfende Känguruhs noch muskelbepackte Riesenmäuse etwas zu suchen.

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