© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  33/14 / 08. August 2014

Sommermärchen 1914
Burgfrieden und die Erfindung der Volksgemeinschaft zu Beginn des Ersten Weltkriegs: War das „August-Erlebnis“ tatsächlich nur eine Geschichtslegende?
Günter Scholdt

Zu den wichtigsten Motiven, die zahlreiche Deutsche bei Kriegsausbruch entflammten, gehörte das Bewußtsein verschworener nationaler Einheit in der Stunde höchster Gefahr. Man faßt es unter Schlagworten wie „Augusterlebnis“, „Ideen von 1914“ oder „Burgfriede“ gemäß Kaiser Wilhelms Worten: „Ich kenne keine Parteien mehr. Ich kenne nur noch Deutsche.“

Der damalige Einheitsrausch ist von Zeitzeugen tausendfach verbürgt. Und wir können die prominenten Stimmen fast mit zwei Händen abzählen, die sich ihm damals vernehmbar entzogen. Wer sich beispielsweise unter den heute geläufigen pazifistischen Autoren umsieht, findet nur verschwindend wenige, die es 1914 schon waren. Brecht, Döblin, Kerr, Remarque, Toller, Unruh, Barlach, Emil Ludwig, Stefan und Arnold Zweig etwa gehörten jedenfalls nicht dazu. Ebensowenig Sigmund Freud, der bei Kriegsausbruch jubilierte, seit dreißig Jahren gehöre Österreich-Ungarn erstmals wieder seine „ganze Libido“.

In der neuen „Burgfrieden“-Gesellschaft sah man spontan alles Trennende überwunden zwischen Klassen, Regionen, Konfessionen, Ethnien, Generationen, Kulturen, Mentalitäten, Geschlechtern oder Berufsgruppen. Und so entlockte die Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD dem Arbeiterdichter Karl Bröger das „Bekenntnis“, daß in Deutschlands größter Gefahr sein „ärmster Sohn“ auch sein „getreuester war“.

Heutigen Historikern gilt jener nationale Rütli-Schwur jedoch vielfach als zu dekonstruierende Legende, allen voran Jeffrey Verhey. Seinem Standardwerk „Der ‘Geist von 1914’ und die Erfindung der Volksgemeinschaft“ (2000) verdanken wir zwar nützliche Differenzierungen, aber der ihm gespendete Forschungsbeifall überschätzt die vom Autor beanspruchte Revision auf symptomatische Weise. Symptomatisch, weil man sich offenbar den gewaltigen Energieschub einer nationalen Willenskonzentration heutzutage nur als Propagandalüge oder -verführung vorstellen kann oder will.

Nach Verhey erweist sich die Begeisterung vom August 1914 letztlich als uneinheitliches großstädtisch-bürgerliches Minderheitserlebnis: eine Mixtur aus Neugier, Angst, Panik, Stolz und abenteuerlich-karnevalesken-radauaffinen Motiven. Erst die nationale Presse und amtliche Eingriffe, also Propaganda und Zensur, hätten dieses Stimmungsgemisch zur jubelnden Zustimmung für Krieg und Schicksalsgemeinschaft vereindeutigt. Danach sei der Mythos allgemein instrumentalisiert worden, von Liberalen und Linken zu Reformzwecken. Militärs hätten ihn genutzt, bis er 1918 an den Realitäten zerschellte.

Hochstimmung animierte bemerkenswerten Sozialpakt

Verheys detaillierte Presselese widerlegt zwar den Verdacht einer geistigen Totalmilitarisierung Deutschlands. Aber seine Kernthesen offenbaren entweder nichts Aufregendes oder lenken gar vom eigentlich Bedeutsamen ab. Falsch wäre nämlich der Eindruck, daß jene Grundstimmung samt dazugehörigem sozialpolitischem Aufbruch nicht existiert hätte, sondern nur künstlich produziert und der Mehrheit unterstellt worden sei.

Zunächst einmal erscheint Hugo Haases Reichstags-Erklärung, „Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich“, als Stimmungsbild repräsentativer als einzelne kriegskritische Belege der SPD-Presse, die nicht grundsätzlich glaubwürdiger ist als die bürgerliche.

Sodann ist die Darlegung dessen, was „das“ Volk angeblich empfindet, zu allen Zeiten nur eine durch Haupt-impulse gestützte Konstruktion seiner dynamischen Teile. Auch die für viele unvergeßliche, medial zu verfolgende Wende 1989 überging Millionen Bedenkliche, die um ihren materiellen oder sozialen Status, SED-Ideale oder Enttarnung fürchteten. Das historisch Entscheidende, Außerordentliche bleibt aber zweifellos die eindrucksvolle Verbundenheitsdemonstration. Und daß 1914 die Begeisterung bei Studenten oder Unter den Linden größer war als in klassischen Arbeitervierteln, wo alltägliche Not das Leben bestimmte, oder auf dem Land, wo sich Bauern im Sommer vornehmlich um die einzubringende Ernte sorgten, war schlicht erwartbar.

Ohnehin unterschied sich die veröffentlichte Meinung schon immer von der öffentlichen. Stets bringen die jeweils agilsten (Herrschafts-)Kreise vorrangig ihre Deutung zur Geltung. Bauern oder Arbeiter waren häufig schon kommunikativ gehandicapt und bedurften von außen kommender Funktionäre. Neigen sie doch eher zum Pragmatismus alltäglicher Lebensbewältigung als zur Produktion von Ideen oder Gesellschaftskonzepten. Demgemäß dominierten damals natürlich die Auffassungen bürgerlicher Eliten.

Selbstverständlich spielten auch Propaganda und Zensur eine verstärkende, die Stimmung zum Medienhype steigernde Rolle, wobei jedoch heute die Wilhelminische Zensur auch im Weltkrieg meist vollkommen überschätzt wird. Propaganda verfängt nur wirklich, wo man nicht völlig an den Interessen oder Einschätzungen der Adressaten vorbeiagitiert. Die wehrhafte Reaktion einer Mehrheit wurde jedoch von der plausiblen Annahme gespeist, daß Deutschland ein nationaler Existenzkampf aufgezwungen war. Und nur auf der Basis tatsächlicher Identifikation mit dem Staat erklärt sich die jahrelange geradezu spektakuläre soldatische Leistung gegen große Teile der Welt.

Das heißt: Wer das fraglos wirkmächtige Augusterlebnis vorwiegend auf gewisse Schichten, kommunikative Lenkung und Verfälschung herunterrelativiert, verfehlt das Wesentliche zumindest der ersten beiden Kriegsjahre. Es lag darin, daß unter der einigenden Hochstimmung bei Kriegsbeginn ein höchst bemerkenswerter Sozialpakt geschlossen wurde mit erheblichen Annäherungen, konkreten gesellschaftlichen Folgen und lukrativen Zukunftsversprechen. Und dies geschah, gestützt durch alle meinungsprägenden Eliten, unter Einschluß sämtlicher Parteien, außer den Vertretern der späteren USPD.

So gelang es tatsächlich, die große Masse auf ein Ziel hin auszurichten, was zunächst großen Zwang erübrigte. Die 185.000 Freiwilligen im August beglaubigen jene Solidaritätsstimmung ebenso wie eine beeindruckende Spenden- und Hilfsbereitschaft oder patriotische Selbstverpflichtungen. Spontan entstanden Volksküchen, Nähstuben, Bürgerzentren, zahlreiche Organisationen zur Arbeitslosenunterstützung und ein nationaler Frauendienst. Gertrud Bäumer nannte die Wohlfahrtspflege als Exempel für die Auflösung der Parteien in eine Volksgemeinschaft.

Dies alles belegt übrigens Verhey selbst, dessen Darstellung, gegen den Strich gelesen, vor mancher Ausdeutung ihres Verfassers und vor allem des Klappentexts zu schützen ist. Verweist er doch auf eine Fülle von Gesetzen, mit denen die Regierung umgehend ihren bisherigen Kurs änderte, zwischen „guten“ und „schlechten“ Deutschen zu unterscheiden. Sozialdemokraten, deren Mahnungen auf sensibilisierte Staatspartner trafen, priesen die Reformen sogar – wie Hugo Heinemann 1914 – als „sozialistische Errungenschaften der Kriegszeit“.

Bereits im August 1914 durfte in Bahnhöfen der Vorwärts verkauft, in Kasernen und Schulen sozialdemokratische Literatur gelesen werden. Der Staat legalisierte früher untersagte Gewerkschaftsaktivitäten. Alle diskriminierenden Bestimmungen gegen die Jesuiten wurden beseitigt, antisemitische Organisationen verboten. Kein Wunder, daß sämtliche jüdischen Verbände vehement den Burgfrieden befürworteten und dazu aufriefen, „über das Maß der Pflicht hinaus freiwillig zu den Fahnen“ zu eilen.

Der Burgfrieden erlahmte unter der Last des Krieges

Bei Verhey und Nachfolgern findet sich stets das gleiche Argumentationsschema: Überzogenen Erwartungen folgt die Klage, daß sie unerfüllt blieben. Wenn nicht gleich die Mehrheit der Deutschen jubelte – eine abwegige Vorstellung ameisenhafter Homogenität –, widerlegt dies angeblich die Nationalunion, wenn die Hilfsbereitschaft später – meist notbedingt – nachließ, desgleichen. „Menschenfreundlichkeit allein“ habe „die Kluft zwischen den Klassen nicht“ verringert. Das wiederum unterschätzt entweder ein seit 1914 deutlich gewachsenes Solidaritätsbewußtsein oder ist banal. Denn natürlich stand die klassenlose Gesellschaft seinerzeit nicht auf der Agenda. Und wer hätte annehmen können, daß die Wilhelminische Standesgesellschaft sich binnen kurzem in ein Gleichheits-Arkadien verwandelt?

Natürlich war die Augusterzählung vom Burgfrieden ein Mythos im Sinne bildhafter Überhöhung und Verklärung. Aber er barg zu einem Gutteil echtes Erlebnis und soziales Lernen, wie auch zwei spätere Exilschriftsteller bezeugen: So berichtete die „höhere Tochter“ Adrienne Thomas von ihrem Freiwilligendienst als Rote-Kreuz- und Schul-Helferin, als sie und ihre Altersgenossinnen erstmals mit Arbeiterkindern zusammenkamen und deren Not verstanden. Carl Zuckmayer wiederum machte unter den Freiwilligen von 1914 (Studenten neben Handwerkern und Bauern) eine handgreifliche neue Erfahrung, die er als „Sprengung des Kastengeistes“ erlebte.

Natürlich erlahmte solcher Anfangsschwung. Und unter der gut vierjährigen Dauerlast des Krieges mit Millionen von Gefallenen, Verstümmelten, Darbenden oder gar Verhungerten zerbrach der sozialpolitische Konsens. Die Revolutionäre von 1918 distanzierten sich von ihm als Schimäre. Kommunisten wiederum operierten mit der alternativen Verheißung einer klassenlosen Gesellschaft. 1933 wurde der „Burgfrieden“ als „Volksgemeinschaft“ revitalisiert und geriet seitdem unter verschärften Ideologieverdacht.

Daß er jedoch als zu konkretisierende Politutopie überhaupt wiederbelebt werden konnte und der Erlebnisgeneration nicht mehr nur als Propagandablase ohne Wirklichkeitsbezug galt, indiziert allerdings, daß da etwas existierte und faszinierte, das man ernster nehmen muß.

 

Prof. Dr. Günter Scholdt ist Germanist und Historiker und war Leiter des Literaturarchivs Saar-Lor-Lux-Elsaß.

Foto: Kriegsbegeisterte Jugend auf dem Pariser Platz in Berlin, koloriertes Foto aus dem August 1914: Wie zu jeder Zeit brachten auch damals die intellektuellen und agilen Kreise ihre vorrangige Deutung zur Geltung

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