© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/14 / 15. August 2014

Angst vor dem Kalifat
Islamischer Staat: Mit äußerster Brutalität und geschicktem Marketing erweitern die Radikalsunniten ihre Einflußsphäre
Marc Zöllner

Sie köpfen Menschen auf offener Straße, verurteilen in Scharia-Prozessen Andersgläubige zur Kreuzigung und rühmen sich ihrer Massenerschießungen von Tausenden Kriegsgefangenen. Die Bilder, welche derzeit aus dem Herrschaftsbereich des „Islamischen Staates“ (IS) an die Weltöffentlichkeit dringen, schockieren in noch nie dagewesener Grausamkeit.

Allein im Irak befinden sich seit dem Beginn der Offensive des IS vom Januar dieses Jahres über eine Million Zivilisten auf der Flucht vor den Radikalsunniten, unter ihnen der Großteil der Christen und Schiiten der besetzten Regionen, aber auch unzählige gemäßigte Sunniten. Ein drohender Völkermord an den nahe der kurdischen Autonomiegebiete siedelnden Jesiden konnte nur durch die Bombardierung islamistischer Artilleriestellungen seitens der US-Luftwaffe sowie das rasche Eingreifen kurdischer Peschmerga verhindert werden.

USA scheuen den direkten Kampf mit den IS-Milizen

Doch derzeit scheint der IS mit Waffengewalt unbezwingbar zu sein. Zwar konnte Anfang Juli ein Einmarsch der Extremisten in die irakische Hauptstadt Bagdad durch Mobilisierung schiitischer Verbände verhindert werden. Seitdem gelang es dem IS jedoch, sein Einflußgebiet im Südwesten bis an die Grenze Jordaniens auszuweiten, im Norden bis nach Mossul sowie in Syrien bis kurz vor die Tore der Millionenmetropole Aleppo. Rund 140.000 Quadratkilometer werden derzeit vom Islamischen Staat beherrscht.

An einen militärischen Sieg gegen das vom IS unter dessen Anführer Abu Bakr al-Baghdadi ausgerufene Kalifat mag ohnehin niemand mehr so recht glauben. Lediglich der Iran lieferte als engster Verbündeter der schiitischen Minderheitsregierung in Bagdad mit drei Suchoi-Kampfflugzeugen bereits erste Waffen an den irakischen Nachbarn. Die USA hingegen scheuen die direkte Konfrontation mit den IS-Milizionären gleich aus mehreren Gründen. Nicht nur, daß es vor der öffentlichen Meinung kaum vertretbar wäre, erneut Bodentruppen in den Nahen Osten zu entsenden. Präsident Barack Obama betrachtet den Islamischen Staat gleichsam als politisches Faustpfand gegen die irakische Regierung unter Al-Maliki.

„Der Grund, warum wir nicht einfach ein paar Luftangriffe über dem Irak befahlen, als der IS dort auftauchte, war, daß wir sonst den Druck von Al-Maliki genommen hätten“, erklärte Obama vergangene Woche gegenüber der New York Times. „Wir hätten diesen nur ermutigt zu denken: ‘Ich brauche keine Kompromisse einzugehen. Die Amerikaner werden uns schon heraushauen, und wir können zum Tagesgeschäft zurückkehren.’“

Um dem Islamischen Staat wirkungsvoll Einhalt zu gebieten, so Oba-ma, bedürfe es nämlich zuvorderst der Beantwortung der Frage, wer das anschließende Machtvakuum in Bagdad ausfüllen und säkuläre Strukturen neu etablieren könne. „Natürlich könnten wir den IS für eine gewisse Zeit auch allein in Schach halten“, konstatiert Obama. „Doch sobald unsere Flugzeuge verschwunden sind, ist der Islamische Staat wieder da.“

Türkei setzt auf Kooperation mit Kurden

Die Lage in Mossul zeigt, daß Präsident Obamas Vorsicht nicht unbegründet ist. Nach der Zerschlagung der wichtigsten militärischen Posten des IS durch die US Air Force übernahm dort eine radikale sunnitische Sufi-Sekte, die „Armee des Ordens der Naqshbandi“, die Kontrolle über die Stadt. Deren Anführer Izzat Ibrahim ad-Duri ist auch in Washington kein Unbekannter: Unter Saddam Hussein diente er im letzten Golfkrieg als einer der ranghöchsten Generäle im Krieg gegen die USA. Seit Januar 2007 leitet er als neuer Vorsitzender die im Untergrund agierende Baath-Partei des Ex-Diktators weiter. Rund 5.000 Mann sollen unter seinem Kommando stehen. Der überzeugte Panarabist gilt als einer der eigentlichen Strippenzieher hinter dem Auftauchen des IS in Syrien sowie im Irak.

Ein weiteres gravierendes Problem stellt überdies der ungebremste Zustrom von Kriegsfreiwilligen aus Dutzenden Ländern dar, welche dem Aufruf Al-Bagdhadis folgend auf illegalen Wegen in dessen Kalifat einwandern, um dort am Dschihad teilzunehmen. Viele von ihnen werden mit Versprechungen von großzügigen Gehältern geködert, von Anwesen für ihre Familien, festen Arbeitsplätzen im Militär und im zivilen Bereich sowie von potentiellen willigen Ehefrauen.

Allein aus der Türkei sollen sich über 5.000 Freiwillige im Kalifat eingefunden haben. „Der Islamische Staat rekrutiert seine Anhänger überall in der Region“, bestätigte kürzlich ein Sprecher der Regierung. In Ankara erwecken Zahlen wie diese Ängste, daß sich der Konflikt auch auf die Türkei ausweiten könne. Am Bosporus ist er bereits gegenwärtig. „Am Tage des Fastenbrechens (28. Juli) waren wir Zeuge einer gewaltigen Predigt unter freiem Himmel, zu welcher sich eine große Gruppe langbärtiger Männer in weißen Gewändern zusammenfand“, berichtet ein Kolumnist der Tageszeitung Today‘s Zaman von seinen Erlebnissen aus Istanbul. „In ihrer Predigt riefen sie auch zum Heiligen Krieg auf.“

Neu-Präsident Recep Tayyip Erdoğan wird rasch handeln müssen, um ein Ausbreiten des religiösen Flächenbrands auf den kleinasiatischen Staat noch zu verhindern. Mit den zur dschafaritischen Rechtsschule des schiitischen Islams gehörenden Gotteshäusern von Allahüekber Ehlibeyt und Muhammedi gingen vergangene Woche bereits zwei Istanbuler Moscheen in von IS-Anhängern gelegten Feuern in Flammen auf. Vor diesem Hintergrund setzt Außenminister Ahmet Davutoglu vor allem auf eine engere Kooperation mit der Führung der kurdischen Regionalverwaltung im Irak.

Foto: Christen finden Schutz in der St.-Joseph-Kirche im kurdischen Erbil: Dem IS-Terror vorerst entkommen

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen