© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/14 / 15. August 2014

Zur Heuchelei erzogen
Judenhaß von Zugewanderten: Warum die Zivilgesellschaft dagegen stumm und unsichtbar bleibt
Doris Neujahr

Dieter Graumann, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, wähnt sich „in der schlimmsten Zeit seit der Nazi-Ära“ und fragt: „Warum gibt es keine Welle der Solidarität mit uns Juden angesichts der Welle von Antisemitismus?“ Die Kirchen und die politischen Eliten hätten sich vorbildlich positioniert, von ihren Mitmenschen fühlten sich die jüdischen Bürger jedoch alleingelassen. „Wenn auf deutschen Straßen gegrölt wird, daß Juden vergast, verbrannt, geschlachtet werden sollen, dann hat das mit Gaza und israelischer Politik sicherlich überhaupt nichts zu tun.“

Doch, doch, das hat es, und nicht jede Kritik an Israel bedeutet Antisemitismus. Die zitierten Losungen aber sind ein Skandal, der nach scharfen Reaktionen ruft! Aus Graumanns Worten spricht Enttäuschung, Erbitterung und Sorge darüber, daß sie ausbleiben. Warum ist die sonst so empörungsbereite Zivilgesellschaft jetzt stumm und unsichtbar?

Wo sind die Lichter- und Menschenketten, wo die Gegendemonstranten mit weißen Rosen am Revers? Wo ist Wolfgang Thierse, der bewährte Straßenblockierer, der sogar Gesetzesbrüche wagt – wenn es gegen die NPD geht. Wo sind die Promis, die „Gesicht zeigen“? Wo die Pfarrer, die im Namen christlich-jüdischer Brüderlichkeit die Sturmglocken gegen Rechts läuten? Wo sind schließlich die Antifaschisten, die gegen die AfD mit der Begründung randalieren, daß man dem Faschismus keinen Fußbreit gönnen dürfe? Mehr Faschismus, als Juden ins Gas zu wünschen, geht doch wohl nicht – oder? Auch die Behörden, die sonst im Bedarfsfall das Gesetz bis an die Grenze zur Rechtsbeugung und darüber hinaus strapazieren, verhalten sich auffällig diskret.

Wie paßt das zusammen: Das Hyper-Engagement gegen „Rechts“ und „Islamophobie“ und die Zurückhaltung im Angesicht der Haßbekenntnisse muslimischer Demonstranten gegen Juden? Das eine folgt aus dem anderen. Im Zeichen einer hypertrophierten Holocaust-Fixierung ist der menschenrechtliche Universalismus zur einzig anständigen und erlaubten Haltung erklärt worden. Das heißt: Die Deutschen dürfen immer weniger exklusive Vorrechte im eigenen Land geltend machen, sondern haben ihre hart erarbeiteten Ressourcen – ökonomische, soziale, aber auch rechtliche usw. – potentiell für alle Menschen, gleichgültig welcher Herkunft, bereitzustellen. Wer das nicht wolle, rede der Ausgrenzung, dem Rassismus, einer Neuauflage des Faschismus das Wort. Jeder Hinweis auf den kulturellen und religiösen Konfliktimport wird als deterministische und ebenfalls rassistische Betrachtungsweise stigmatisiert.

Nun sieht es in anderen europäischen Ländern häufig noch schlimmer aus. Deutschland ist aber insofern ein Sonderfall, als seine nichteuropäische Zuwanderung aus keiner kolonialistischen Vergangenheit herrührt, sondern aus der idealistischen Fixierung auf den Schuldgedanken. Unter den europäischen Nationalstaaten ist es damit zur Avantgarde geworden. Inzwischen steht ganz Europa unter dem selbsterklärten Schuldverdikt, während die Angehörigen der „Dritten Welt“ sich als Opfer der „weißen“ Welt betrachten und auf Entschädigung und an ihre Tore pochen.

Hochrangige jüdische Vertreter haben diese Ideologie ausdrücklich befördert. Israel Singer, damals Präsident des Jüdischen Weltkongresses, schrieb 2005: „Europa muß aber multikulturell und multireligiös sein. In einer Welt der Völkerwanderungen und einem Europa der vielen Völker ist der Rassismus nicht nur politisch inkorrekt. Er ist ökonomisch, finanziell und sozial erledigt.“ In diesem Sinne hat sich auch der Zentralrat in Deutschland geäußert. Noch gut in Erinnerung sind seine Stellungnahmen gegen Thilo Sarrazin.

Die Zivilgesellschaft ist einer der Transmissionsriemen, der die Ideologie in die Praxis überträgt. Nun sehen ihre Vertreter sich damit konfrontiert, daß sie eine Situation mit herbeigeführt haben, in der sich Judenhaß wieder lautstark und öffentlich äußert. Ihre Beschwichtigungen klingen paradox: Gerade weil die Deutschen wüßten, zu welchen Konsequenzen die Stigmatisierung einer Bevölkerungsgruppe führen könne, dürften sie die muslimischen Demonstranten nicht als Antisemiten stigmatisieren, denn das wäre die Wiederholung der NS-Praxis. Weil also die Nationalsozialisten die Juden umgebracht haben, muß heute die antinazistische Zivilgesellschaft dem Judenhaß von Zugewanderten mit Verständnis begegnen. Das ist eine Rabulistik, die den zentralen Wert, auf den sie sich beruft, im selben Atemzug zur Disposition stellt.

Die Verhaltenslogik, die dahintersteckt, ist freilich simpel und sollte auch Dieter Graumann zu denken geben. Wenn man die Menschen permanent mit erhobenem Zeigefinger, mit zumeist abwegigen und inkompetenten Ermahnungen traktiert, ihnen immer neue Schuld- und Reuebekenntnisse abpreßt und Sühneleistungen auferlegt ohne Aussicht auf Erlösung; wenn man sie schon seit dem frühen Schulalter über den Unwert ihrer Vorfahren und über ihre Herkunft als „Täterabkömmlinge“ belehrt, dann zieht man keine freien, überzeugungstreuen, couragierten und stolzen Bürger, sondern Heuchler mit gebrochenem Selbstwertgefühl und konfuser Wahrnehmung heran. Inzwischen haben sie ihre Heuchelei soweit perfektioniert, daß diese ein Teil ihres Selbst geworden ist und sie ihren Ehrgeiz daransetzen, andere ebenfalls zur Heuchelei zu zwingen. In dem Aufsatz „Heuchelei und moralische Weltanschauung“ schrieb der Berliner Sozialphilosoph Peter Furth: „Der Heuchler ist ein Konformist, der auf die Verfolgung seiner eigensinnigen Interessen nicht verzichtet.“

Und seine Interessen werden reichlich bedient: mit Sinnstiftung, Gemeinschaftsgefühl, mit öffentlicher Anerkennung, gesellschaftlichem Prestige und – für die ganz Gerissenen – mit Stipendien, Planstellen und Karrieren in der Politik. Die Melange von Heuchelei und anschließender Belohnung läßt häßliche Eigenschaften hervorsprießen: das Eiferer- und Denunziantentum, die Schnüffelmentalität, die sadistische Freude an der Erniedrigung und sozialen Vernichtung von Wehrlosen. Was unter dem Begriff „Zivilgesellschaft“ firmiert, ist eine Herde von Mitläufern, die sich im Handumdrehen zur „Hetzmeute der Rechtgläubigen“ (Peter Furth) formiert.

Es ist ja so einfach und ohne Risiko, aus übermächtiger Position, mit polizeilichem, juristischem und medialem Flankenschutz Andersdenkende, die als Extremisten oder Rassisten ohnehin zum Abschuß freigegeben worden sind, zu blockieren, zu bespucken, zu verhöhnen, an den Pranger zu stellen. Etwas ganz anderes ist es, Demonstranten gegenüberzutreten, deren Schlagkraft weder durch postheroische Erziehung noch durch demographische Auszehrung angekränkelt ist.

Der zivilgesellschaftliche Heuchler wägt die Kräfteverhältnisse und seine Interessenlage ganz genau und stellt sich die Frage, ob der Staat willens und überhaupt noch in der Lage ist, ihn vor einer möglichen Abreibung zu schützen. Eher nicht. Also bleibt er zu Hause. Denn Tapferkeit gehört zu den Eigenschaften, die man nicht heucheln kann. Die Bundesrepublik hat keine Tugenden generiert, die ihre Bürger zum Widerstehen befähigen. Von der Zivilgesellschaft ist außer opportunistischen Anpassungsleistungen nichts zu erwarten.

Foto: Hieronymus Bosch, Die Kreuztragung Christi, zwischen 1510 und 1535: Herde von Mitläufern

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