© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  34/14 / 15. August 2014

Er strebte zu einer neuen Form
Gottfried Benn auf dem Schirm: Till Röcke über eine Fortsetzung des Expressionismus mit anderen Mitteln
Andreas Zöllner

In ein sehr vieldeutiges Gewand hat der Telesma-Verlag das „Traktat über Gottfried Benns ‘Phase II’“ gehüllt. Von außen schaut es aus wie eines der Bändchen aus der Edition Nautilus, mit surrealistischen Manifesten, anarchistischen oder dadadistischen Pamphleten. Doch zur Klappenbroschur kommt ein beunruhigend roter Vorsatzbogen. Und die innere Typographie mit groß in den Textfluß eingeschobener Paginierung und Zwischentiteln in Frakturlettern erinnert an Programmschriften konservativer Polemik aus der Zwischenkriegszeit.

Mit fortgesetzter Lektüre erscheint dem Leser diese Fassung immer passender für den Inhalt. Denn hier wird ein Wandel ohne Abschied beschrieben. Es geht um den Dichter Gottfried Benn (1886–1956). Nach einem frühen Ruhm als morbider Sänger der Auflösung in Krankheit und Zersetzung, mit der expressionistischen Kurzprosa „Gehirne“ und Gedichten wie „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“, erfaßt ihn zunächst die neoklassizistische Wende der europäischen Avantgarde. Das schlug sich nieder in Aufsätzen wie „Dorische Welt“ und „Züchtung I“. Darin verkündet er die Notwendigkeit, „Gehirne mit Eckzähnen“ zu züchten.

Doch bald schnappen die geistlosen Eckzähne der nationalsozialistischen Kulturpolitik nach ihm selbst. Eine Flucht nach vorn, und damit in das Innere einer kriegsbereiten Wehrmacht, läßt ihn im Schatten der Schreibstube jener „Phase II“, dem „Minimalprogramm“, zusteuern, dessen genauerer Beschreibung Till Röcke sich in seiner Arbeit widmet.

Als Mediziner wurde Benn bereits zeitig auf ganz konkrete Weise dem Nihilismus in die Arme geworfen. Nach dem Totalausfall des zweiten Krieges teilt er nicht die „metaphysisch gewendete Anthropozentrismuskritik“, wie sie durch Ernst Jünger oder Gerhard Nebel vertreten wird. Aus den Trümmern der Lebenswirklichkeit strebt er zu einem neuen Formverständnis. Es geht ihm um eine Artistik, die nicht lebensfremd ist. Röcke meint: „Nach den letzten Erregungen des Abendlandes ist die Zeit reif für neue Formen, einen neuen Geist.“

Man könnte freilich ebenso sagen, der alterslose Geist fährt, nach einigen heftigen Abirrungen und dem endgültigen Scheitern des Konservatismus wie des Liberalismus, in dem tief gekerbten Geleise ewigen Ausdruckswillens fort. Dabei ist freilich kaum zu unterscheiden, ob die dichterischen Arbeiten als Anwendungsbeispiele seiner altneuen Poetologie oder die Essays seinem Dichten zur Rechtfertigung dienen. Die Grenzen sind verwischt.

Die Stimme hinter dem Vorhang hörbar gemacht

Diese Entwicklung beginnt mit den Arbeiten für die Schublade in den dreißiger Jahren. Mit „Der Radardenker“ gelangt sie zum Abschluß. Die formalen Zugeständnisse an die Lage resultieren daraus, daß der Künstler Benn vom Zustand seiner ihn umgebenden Wirklichkeit lebt. Darin findet er sein Material. Röcke stellt fest, es „geht ihm nicht um eine Antihaltung..., sondern um die Fortsetzung des Expressionismus mit anderen Mitteln, mit denen der Nachkriegszeit nämlich“.

Das Verdienst dieser Untersuchung besteht darin, Gottfried Benns Stimme hinter dem dämpfenden Vorhang der Nachkriegsdiskussionen wieder hörbar zu machen in ihrer Unabdingbarkeit. Röckes Buch beinhaltet eine Kompilation der relevanten Literatur, die sich stellenweise wie eine befriedigte Antwort des Dichters an die verstehende Nachwelt liest, da der Autor einige von dessen Standpunkten in einer dem Bennschen Diktum anverwandelten Sprache ausbreitet.

Nach nichts als der Modernität wird heute immerzu gefragt. Und mit Wonne wirft man sich auf die Flapsigkeiten in den Gedichten Benns. Stilisiert sie zu Vorläufern des Poetry Slam. Dabei sind die beifallheischenden Kneipenpoeten im Bennschen Sinn eher Kulturträger. Der Kunsträger dagegen bleibt in des Dichters Worten „statistisch asozial, lebt nur mit seinem inneren Material, er ist ganz uninteressiert an Verbreitung, Flächenwirkung, Aufnahmesteigerung, an Kultur“.

Das Fragmentarische, die Montage aus Niederem und Hehrem, dient bei Benn der Bewahrung und Beschwörung von Form. Er badet nicht in der verschwimmenden Sphäre gebrochener Form. Er badet es aus, um in verjüngter Sprache daraus hervorzugehen. In diesem Sinne war der Untergang des alten Europa im Krieg nur die letzte Probe für seine neue Ausdruckskunst. Und Gottfried Benn ist somit kein Bewahrer des Vergangenen, sondern ein Erhalter des Bleibenden. Till Röcke hat von seinen Versen und Sätzen den Biedermeiermulm der Wirtschaftswunderjahre heruntergefegt, damit sie wieder in gediegener Kraft erstrahlen.

Till Röcke: Radardenker. Traktat über Gottfried Benns „Phase II“. Telesma-Verlag, Treuenbrietzen 2013, broschiert, 160 Seiten, 14,95 Euro

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