© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/14 / 22. August 2014

„Vertrau der Pranke, Löwe“
Irak: Der Kampf gegen die IS-Gotteskrieger führt die Kurden aus dem weltpolitischen Abseits
Günther Deschner

Erst die Eroberung der kurdisch-arabisch und auch religiös gemischten Zwei-Millionen-Stadt Mossul durch die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) war für den Irak und die Welt ein Alarmsignal. Das Vorrücken des IS in Richtung Bagdad und nach Norden in Richtung der Kurdenregion schien kaum aufzuhalten. Doch neben der militärischen Sicherung ihrer autonomen Region gelang den kurdischen Peschmerga mit US-Luftunterstützung sogar die Rückeroberung des Mossul-Staudamms. Auch der IS-Vorstoß auf Bagdad wurde zunächst gestoppt.

Dennoch sieht die Zukunft des Irak verhangen aus. Es ist keineswegs sicher, ob die vergangene Woche ins Amt gekommene neue Regierung Haidar al-Abadis durch Vermeidung der Fehler des bisherigen Premiers Nuri al-Maliki den brüchigen, ethnisch und religiös heillos zerklüfteten Irak in seiner bisherigen Form noch retten kann.

Über Jahrzehnte waren die heute fünf Millionen Kurden die Stiefkinder der Briten und dann – nach deren Abzug – der Zentralregierung in Bagdad. Den kurdischen Stämmen im Norden wurde in den 1920er und 1930er Jahren die Loyalität durch die Royal Air Force eingebombt. Es war das erste Mal, daß Bomber gegen die Zivilbevölkerung eingesetzt wurden. Intern hatte sich Churchill mokiert, daß man nicht gleich Giftgas verwendete. Doch die Kurden probten immer wieder den Aufstand gegen Bagdad.

Es war Diktator Saddam Hussein, der zur „Pazifizierung“ der Kurden Churchills Giftgas-Bemerkung aufgriff: In Halabscha und anderswo ließ er Kurden durch Giftgasbomben töten. Spätestens seit diesen Ereignissen waren Vertrauen und Loyalität der Kurden zu Bagdad zerstört.

Seither bauen sie nicht auf Versprechungen und kleine Zugeständnisse wie hie und da die Besetzung eines Prestige-Amtes mit einem Kurden, sondern sie verlassen sich auf das alte kurdische Sprichwort „Vertraue der Pranke, Löwe! Die Heiligen werden Dir nicht helfen!“

Die Linie der kurdischen Regionalregierung im Nordirak – bereits vor drei Wochen beim Besuch des US-Außenministers in Erbil angedeutet und danach bei einem Besuch kurdischer Offizieller in Washington formuliert – beinhaltet mehrere Möglichkeiten. Massud Barsani, Präsident der Autonomen Region Kurdistan, brachte diese auf die Formel: „Derzeit sind für uns alle Optionen offen.“ Die Kurden würden sich der „Teilnahme an einer neuen nationalen irakischen Regierung nicht verschließen“, sagte er, „aber nur unter der Voraussetzung, daß Bagdad die neuen Tatsachen“ anerkenne. Diese bestehen darin, daß die Kurden nun Kirkuk und andere als „umstritten“ geltende Gebiete kontrollieren. Gleichzeitig behält sich die kurdische Regionalregierung auch ihr Recht auf Selbstbestimmung vor: Barsani hat sogar angekündigt, „ein Referendum über die kurdische Unabhängigkeit“, also einen eigenen Staat, abhalten zu wollen. Dessen Ergebnis ist leicht vorauszusehen. Ob die Kurden aber wirklich diejenigen sein werden, die das Ende des Staates Irak herbeiführen, wird sich bald zeigen. Fest steht, daß die Kurden Bagdad überhaupt nichts zu verdanken haben. Aber unkompliziert würde eine Zukunft als Binnenland zwischen Nachbarn, die einem Kurdenstaat skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, auch nicht sein.

Erdogan preist die kurdischen Brüder

Vor allem für die Türkei. Deren Südosten wird von Kurden dominiert und grenzt direkt an die Kurdengebiete Iraks, Irans und Syriens. Dadurch sieht Ankara sich gezwungen, auf die De-facto-Fragmentierung des Irak mit einer Politik konstruktiver Eindämmung des Kurdenproblems zu reagieren. Erdoğan weiß, daß er seine eigene Kurdenfrage entschärfen muß, wenn er seinen Einfluß in der Region konsolidieren will. Denn das mögliche Entstehen eines Kurdenstaats im Irak könnte ansteckend auf die türkischen Kurden wirken.

Kein Wunder, daß der neu gewählte Präsident der Türkei seit kurzem laut über das arabische Wort „Vilayet“ nachdenkt, das im Ottomanischen Reich für die halb-autonomen Provinzen stand – ein Konzept, mit dem sich in der Gegenwart die Kurden des Irak bescheiden könnten und das auch ein Schlüssel zur Beruhigung der türkischen Kurden wäre.

In der Zusammenarbeit Ankaras mit Erbil funktioniert das schon gut. Ironie der Geschichte, daß gerade die Türkei nichts gegen ein „Mehr“ an Unabhängigkeit der irakischen Kurden einzuwenden hat. Ankara erhofft sich dadurch vermutlich eine „Pufferregion“ und natürlich eine strategische Stärkung als Öltransitland.

Schon jetzt geht das kurdische Öl über eine Pipeline in die Türkei und bis zum Verladehafen Ceyhan. Wirtschaftlich ist der Nordirak ohnehin fest in türkischer Hand: Den weitaus größten Teil der Projekte, die aus der Kurdenhauptstadt Erbil ein „zweites Dubai“ machen, realisieren türkische Firmen. Ein stabiles Kurdistan dürfte für Ankara jedenfalls mehr von Interesse sein als ein chaotischer Nordirak.

Im vergangenen November traf sich Erdoğan sogar demonstrativ in Diyarbakir, der „Hauptstadt“ der türkischen Kurden, mit dem irakischen Kurdenpräsidenten Massud Barsani. „Wir sind Brüder, vom Anbeginn der Zeit bis zum Ende der Zeit“, beschwor Erdoğan vor hunderttausend türkischen Kurden die „gute Zukunft“ – inmitten eines Meeres grün-gelb-roter kurdischer Fahnen. Zum ersten Mal nahm er zudem öffentlich das Wort „Kurdistan“ in den Mund: „So Gott will, wird die Zukunft ganz anders sein“, sagte er. „Wir werden jene, die in den Bergen sind, herabsteigen sehen – und wir werden zusammenstehen.“

Foto: Peschmerga feiern die Rückeroberung des Mossul-Staudammes: Enge Kooperation mit den USA

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