© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/14 / 22. August 2014

Anfang vom Ende des Zarenstaates
Die Schlacht bei Tannenberg im August 1914 und die Folgen von Hindenburgs „Kernsieg“
Oliver Busch

Am 30. Juli 1914 brannten überall russische Wachhäuser an der Grenze zu Ostpreußen. Das war ein letztes Zeichen dafür, daß das Attentat von Sarajevo zum großen Krieg eskalieren würde. Tags darauf erfolgte die russische Generalmobilmachung, die das Kaiserreich am 1. August mit Mobilmachung und Kriegserklärung beantwortete, die der deutsche Botschafter an diesem prachtvollen Sommertag pünktlich um 18 Uhr in Petersburg übergab.

Fast zur selben Stunde besetzte eine Kosakenabteilung, ohne daß ihr der Kriegszustand bekannt sein konnte, die Poststelle in Klein-Zwalinnen, an der masurischen Grenze südlich von Lötzen. Deutsche Truppen vertrieben den vorwitzigen Feind hier zwar genauso wie im benachbarten Soldauer Gebiet, wo Kosaken am frühen Morgen des 2. August aufgetaucht waren. Aber dieser Avantgarde folgte schon am 14. August 1914 die „russische Dampfwalze“ in Gestalt der Njemen-Armee unter dem Kommando des deutschbaltischen Generals Paul von Rennenkampff, die mit Stoßrichtung Gumbinnen ins östliche Ostpreußen einfiel, während die 2., von Alexander Samsonow befehligte Narew-Armee sich aus dem Raum Warschau gen Allenstein in Marsch setzte.

Ziel ihrer Offensive war die Zerschlagung der deutschen 8. Armee, der einzigen, die zum Schutz Ost- und Westpreußens zur Verfügung stand. Trotz zahlenmäßiger und materieller Unterlegenheit gelang es den Deutschen jedoch, Rennenkampfs Divisionen am 17. August im Gefecht bei Stallupönen und am 20. August in einer regelrechten Schlacht bei Gumbinnen aufzuhalten. Nur aus einer krassen Fehleinschätzung des Oberbefehlshabers Max von Prittwitz und Gaffron über die günstige Lage vor Gumbinnen resultierte am Abend des 20. August der Befehl, das dort erfolgreich fechtende I. Armeekorps unter General Hermann von François möge sich vom Feind lösen.

Katastrophale Niederlage für die russische Armee

Aus Sicht des im fernen Koblenz vollauf mit den Operationen in Belgien und Frankreich beschäftigten Großen Generalstabs machten Prittwitz’ weitere „kopflose“ Dispositionen dann den Eindruck, als wolle sich die 8. Armee über die Weichsel zurückziehen und Deutschlands östliche Provinz den Invasoren überlassen. Da aber eine Räumung Ostpreußens unabsehbare Konsequenzen für das übrige Ostdeutschland haben mußte, den Russen letztlich der Weg nach Berlin freigestanden hätte, erhielt Prittwitz am 22. August seinen Abschied. An seine Stelle trat der reaktivierte General Paul von Hindenburg, der am 23. mit seinem geschickten Stabs-chef Erich Ludendorff in Marienburg eintraf, wo er sofort die Befehle für eine kühne Umgruppierung seiner Korps gab, um den nur langsam vorrückenden Rennenkampff mit schwachen Kräften abzublocken und mit der Hauptmacht Samsonows Heerwurm einzukesseln.

Es dauerte dann nur eine Woche, bis sich das Schicksal von dessen Narew-Armee im Raum zwischen Neidenburg, Hohenstein und Ortelsburg erfüllt hatte. Am 30. August waren dort drei russische Armeekorps eingeschlossen, deren letzte Ausbruchsversuche tags darauf scheiterten. Knapp 7.000 Tote, unter ihnen Samsonow, der den Freitod wählte, fanden auf dem Schlachtfeld ihre letzte Ruhe, dazu kam eine offenbar ähnlich hohe Zahl von nicht erfaßten Gefallenen. 92.000 Russen gerieten in Gefangenschaft, darunter 13 Generale. Deutscherseits kostete das ostpreußische Cannae etwa 4.000 Tote. Auf Vorschlag Hindenburgs, der meinte, mit diesem Sieg wäre die „Scharte von 1410“ endlich „ausgewetzt“, ist das Treffen nach dem weiter westlich des Kessels gelegenen Ort Tannenberg benannt worden, wo die Ritter des Deutschen Ordens 500 Jahre zuvor einer polnisch-litauisch-tatarischen Streitmacht erlagen.

In seiner heute noch maßgeblichen Darstellung über Tannenberg und „Das Deutsche Heer von 1914“ (Breslau 1928) qualifiziert der fest im George-Kreis verwurzelte Berliner Militärhistoriker Walter Elze den Ausgang der Schlacht als deutschen „Kernsieg“. Im Unterschied zum „Gesamtsieg“, den der Schlieffenplan im Westen anstrebte, müsse der Kernsieg nicht das ganze feindliche Heer treffen. Es genüge, dem Feind einen Schlag zu versetzen, der den „Sinn“ oder die „Hoffnung“ zerstöre, die ihn zum Krieg veranlaßten. Zudem schließe dieses Resultat eine „vollkommen geglückte“ militärische Operation ab, „die über dem Feind das überlegene fachliche Können des Siegers als neues Gesetz in einem Ereignis aufrichtet“. Tannenberg erfülle beide Anforderungen. In dieser Perfektion sei Hindenburgs Triumph überhaupt der „einzige große Kernsieg des Weltkrieges“, den das deutsche Heer nicht wiederholen konnte, und auch den Entente-Armeen gelang nichts Gleichwertiges.

In Ostpreußen glückte daher weit mehr als ein „Anfangserfolg“ oder nur, mit Blick auf den Kriegsverlauf bis 1918, ein selbst für die Ostfront strategisch belangloser Abwehrsieg. Hindenburgs Grenadiere hätten nämlich tatsächlich die „Hoffnung“ der Russen zuschanden werden lassen, mit Frankreich zusammen das Deutsche Reich in einem raschen Feldzug niederzuwerfen und als weltpolitischen Machtfaktor auszuschalten. Tannenberg habe ihnen stattdessen nicht nur den Weg nach Berlin und Wien verlegt und damit die Mittelmächte vor der Kapitulation nur vier Wochen nach Kriegsausbruch bewahrt, sondern den Angreifern eine derart katastrophale Niederlage bereitet, daß auf den Schlachtfeldern Masurens nicht weniger als der Untergang des Zarenstaates seinen Ausgang genommen habe.

Endlich ging von diesem Kernsieg die „nachwirkende Kraft der vollbrachten großen Leistung“ aus und „jene seltsame Erscheinung, daß unser Volk trotz des schließlichen Erlahmens der Kräfte“ sich 1918 nicht als besiegt fühlte. Zu Recht verweist Elze damit auf das psychische Reservoir, das während der Weimarer Republik den „Tannenberg-Mythos“ speiste, ohne den der Wille zu nationalem Wiederaufstieg und zur Revision des Versailler Diktats schwerlich vorstellbar gewesen wäre.

Gäbe es noch ein nennenswertes historisches Bewußtsein als Grundlage politischen Willens zu freier, selbstbestimmter nationaler Existenz, würde man Hindenburg als Retter des Reiches in Ehren halten, ohne die entscheidende Leistung der verantwortlichen Strategen Ludendorff und dessen Stabschef Max Hoffmann herabzusetzen. Stattdessen verschluckten im letzten Jahrzehnt immer neue kollektive Demenzschübe der bundesdeutschen Spaßgesellschaft die meisten Hindenburgstraßen und -plätze. Rechtzeitig, wenige Monate vor dem 100. Gedenktag der Schlacht bei Tannenberg, verschwand auch das Kieler Hindenburgufer (JF 5/14), das der infantile Gegengeist, ihm überaus adäquat, zur „Kiellinie“ umtaufte.

Foto: Hugo Vogel, Hindenburg auf dem Schlachtfeld bei Tannenberg, Öl auf Leinwand 1915: Psychisches Reservoir für Wiederaufstieg nach 1918

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