© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  35/14 / 22. August 2014

Vater der deutschen Dichtung
Mittelmäßigkeit war selten wirksamer: Vor 375 Jahren starb in Danzig der Barockpoet Martin Opitz
Wolfgang Müller

Mit gelinde zynisch klingendem Unterton kommentiert der Literaturhistoriker Josef Nadler den frühen Tod des Barockpoeten Martin Opitz, den am 20. August 1639 in Danzig die Pest hinwegraffte: „Es war gewiß sein Glück.“

Nadlers lakonisches Urteil über den „Vater der deutschen Dichtung“ resultierte aus dem Kontrast zwischen dem legendären Nachruhm des nur 43 Jahre alt gewordenen „Kunstlehrmeisters“ und dessen tatsächlicher literarischer Leistung, die zur Annahme berechtigt, daß er Werke von wesentlichem Rang kaum mehr produziert hätte. Darum hätte der Sohn eines Fleischermeisters und Ratsherrn aus dem schlesischen Bunzlau eigentlich auf dem Sterbebett sein Schaffen zufrieden bilanzieren können, denn „Mittelmäßigkeit war selten fruchtbarer und wirksamer“. Ein „mageres Heftchen“, wie der aus Graudenz gebürtige Altgermanist Gustav Roethe Opitzens Opus magnum zensierte, ist die Grundlage eines Ruhms, der auch 375 Jahre nach dem Pesttod des seit 1635 dem polnischen König als Hofhistoriograph dienenden gelehrten Literaten nicht erloschen ist.

Es handelt sich um „Martini Opitii Buch von der Deutschen Poeterey“, das 1624 im heimischen Breslau erschienen war. Ungeachtet einiger Vorläufer um 1600, deren Versuche aber nicht überliefert sind, legte Opitz mit diesem angeblich in „fünff tagen“ verfaßten handlich-übersichtlichen Leitfaden für das Dichterhandwerk die erste deutsch geschriebene Poetik des 17. Jahrhunderts vor. Der hastig geschriebene Grundriß wollte das Wesen der Poesie definieren, stellte ausgewählte Regeln zur Belebung des Ausdrucks zusammen, behandelte kursorisch die poetischen Gattungen (Tragödie, Komödie, Satire, Ekloge, Epigramm, Hymne) und forderte Sprachrichigkeit auch im Vers ein.

Vor allem aber enthielt seine Poetik die zweite, im Vergleich mit einer gedruckten „Rede des Gymnasiasten der Beuthener Gelehrtenschule“ (1617) wesentlich kräftigere und einflußreichere Verteidigung des Daseinsrechts einer deutschen Poesie, die hinter dem Lateinischen und Französischen nicht zurückstehen müsse.

Zugleich richtete sich Opitz’ Ehrgeiz darauf, die deutsche Muttersprache, der er bescheinigte, seit dem Mittelalter in Verfall geraten zu sein, zu „reinigen“, bevor sie den übrigen europäischen Sprachen ebenbürtig werden könne. Ein Projekt, für das Opitz‘ Lebenszeit nicht ausreichte, das aber von mehreren Sprachgesellschaften der Barockepoche aufgegriffen und weiterverfolgt worden ist. Noch in den Danziger Jahren bemühte Opitz sich um die Wiederanknüpfung an althochdeutsche Sprachkunst, als er das in einer Breslauer Bibliothek aufgefundene „Annolied“ aus dem 11. Jahrhundert herausgab.

Arno Lubos fragt im ersten Band seiner voluminösen „Geschichte der Literatur Schlesiens“ (1960), ob Opitz sich eigentlich darauf beschränkt habe, die Deutschen zum poetischen Gebrauch ihrer Sprache zu ermuntern, oder ob er gewesen sei, was die Germanisten des 19. und 20. Jahrhunderts von ihm behaupteten, ein „vaterländischer Erzieher“. Ging es ihm nur um Literatur oder trieb ihn ein „starkes nationales Bewußtsein“. Anhaltspunkte dafür findet Lubos nicht nur in der „Poeterey“, sondern auch im übrigen Schaffen, vor allem im frühen „Trostgedicht in Widerwärtigkeit des Krieges“ von 1621, das den eben ausgebrochenen Dreißigjährigen Krieg reflektiert, der Opitz’ gesamtes Leben überschattete. Hier finde sich neben einer klaren Tendenz gegen die katholischen und habsburgischen Spanier ein echtes Gefühl für die „völkische Gemeinsamkeit“. Es sei daher nicht zu bezweifeln, daß die „Poeterey“ eine Dichtung anleiten wollte, die das „deutsche Volksbewußtsein“ wecken oder, wie es ein postnationaler, kritischer Opitz-Forscher unserer Tage formulierte, die „geistige Selbstfindung der Nation“ (Klaus Garber) inspirieren sollte.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen