© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/14 / 29. August 2014

„Es ist ein Minenfeld“
75 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges rüttelt der Film „Wolfskinder“ an einem Tabu. Regisseur Rick Ostermann erklärt, warum.
Moritz Schwarz

Herr Ostermann, warum ausgerechnet Wolfskinder?

Ostermann: Gute Frage, denn die meisten Leute wissen damit gar nichts anzufangen. Ich wurde gefragt: Meinst du Werwölfe? Oder: Romulus und Remus?

Sie hätten doch auch einen Film über Jugendliche in Berlin machen können?

Ostermann: Sicher, aber mich hat das Thema einfach nicht mehr losgelassen. Und vielleicht habe ich mir gerade wegen der Einwände gesagt: Jetzt erst recht!

Wären Sie nicht selbst familiär betroffen, hätten Sie es gewußt, was Wolfskinder sind?

Ostermann: Ganz ehrlich? Nein.

Tatsächlich stammen Millionen Deutsche von Vertriebenen ab, dennoch interessieren sich die meisten nicht für deren Schicksal. Warum ist das bei Ihnen anders?

Ostermann: Genau weiß ich es nicht, aber sicher ist es familiär bedingt. Ich habe schon immer nach der Herkunft meiner Familie gefragt. Meine Großmutter kommt aus Ostpreußen. Aha, und wo ist das? Was war denn da? Und dann stellte ich fest, daß das Schicksal meiner Familie mit dem historischen Schicksal Deutschlands eng verknüpft ist.

Ihre Großmutter war aber kein Wolfskind.

Ostermann: Aber über ihr Flüchtlingsschicksal bin ich auf die Wolfskinder gestoßen. Das hat mich dann, wie gesagt, nicht mehr losgelassen, und man entwickelt diesen Drang, Leuten die darüber nichts wissen, davon zu erzählen. Das ist eigentlich das Motiv für meinen Film.

Ihr Film erzählt die Geschichte zweier Brüder – ein authentisches Schicksal?

Ostermann: Die Geschichte ist die fiktive Summe dessen, was ich an authentischen Schicksalen recherchiert habe. Es war sehr schwer, Zeitzeugen zu finden, die bereit waren, Auskunft zu geben. Ich habe wirklich viele Briefe geschrieben, aber es kam kaum etwas zurück. Viele haben so Schlimmes erlebt, sie möchten einfach nicht mehr daran rühren. Ein Wolfskind – eine alte Frau, die ich ausfindig machen konnte – sagte mir, sie sei nun doch bereit, über diese Zeit zu reden, aber nur dieses eine Mal, danach wolle sie nie wieder daran erinnert werden.

Warum?

Ostermann: Diese Menschen haben alle Schreckliches erlebt. Dabei spreche ich gar nicht von Mord oder Vergewaltigung, obwohl sie auch das erlitten haben.

Das wird Ihrem Film vorgeworfen: daß Ihr Film die ganze Härte des Wolfskinder-schicksals gar nicht zeigt.

Ostermann: Wenn wir das gemacht hätten, dann hätte sich den Film niemand mehr ansehen wollen. In Testvorführungen monierten einige Zeitzeugen, was alles an Härten fehle, während andere Zuschauer klagten, für sie sei der Film schon so fast zuviel. Was sie damit meinen – das wollte ich eben noch erklären –, ist, daß die Wolfskinder eine besondere Erfahrung gemacht haben, die den meisten von uns heute praktisch unbekannt ist: die Herausforderung des nackten Überlebens. Ich bin selbst in Sicherheit, mit Kühlschrank und Zentralheizung aufgewachsen, mußte mir keine Sorgen um das Existentielle machen. Diese Kinder dagegen wurden Opfer einer brutalen Erwachsenenwelt, der sie hilflos ausgeliefert waren. Das ist exemplarisch. Das passiert gerade auch in Syrien, Irak, Gaza oder in der Ukraine.

Die meisten Vertriebenen waren mit der Herausforderung des Überlebens konfrontiert. Was ist darüber hinaus das Besondere an den Wolfskindern?

Ostermann: Der Verlust der Identität. Denn die Wolfskinder flüchteten aus Ostpreußen nach Litauen, also in ein fremdes Land, und viele von ihnen haben dann, um zu überleben, dort eine neue Identität angenommen, wurden Angehörige einer anderen Nation, wurden litauische Kinder, und manche vergaßen im Laufe der Zeit sogar, daß sie einmal deutsche Kinder waren. Ein Hans vergaß, daß er Hans war und wurde zu einem Janis. Und zwar nicht für eine begrenzte Zeit, sondern manche für immer. Die anderen Flüchtlinge sind alle nach Westen gegangen und dort irgendwo angekommen, viele Wolfskinder dagegen sind nie angekommen, sondern in einem neuen Leben verschwunden. Auch das ist etwas für uns heute Unvorstellbares, denn keiner von uns war je in der Lage, sich als Spanier, Pole oder Franzose ausgeben zu müssen, um zu überleben.

Mit diesem Punkt wirkt Ihr Film irritierend, da heute die Auffassung herrscht, nationale Identität sei lediglich eine Paßformalie, die keinen Bezug zu unserer persönlichen Identität hat. Die Vorstellung, daß dies doch so sein könnte, gilt als hinterwäldlerisch und antiquiert.

Ostermann: Der Gedanke wird dann spannend, wenn man merkt, daß die nationale Identität lebensbedrohlich wird. Das gibt es anderswo in der Welt auch heute noch. Aber natürlich steht es im krassen Kontrast zu einer europäischen Welt, in der nationale Identität in der Tat keine entscheidende Rolle mehr spielt.

Tatsächlich haben viele Wolfskinder bis zur Wende in Osteuropa mit versteckter Identität gelebt. Erst nach 1990 konnten sie offenbaren, daß sie eigentlich Deutsche sind.

Ostermann: Ja, und es gab zunächst auch Drehbuchentwürfe, nach denen sich die beiden Brüder nach der Wende wiedertreffen – der eine in der Bundesrepublik, der andere im sowjetischen Litauen groß geworden. Das hätte den Film in eine nächste Dimension gebracht, aber es hätte ihm auch die Konzentration auf das Erleben der Kinder genommen.

Die ehemalige Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung Gertrud Dempwolf berichtete von ihrem ersten Zusammentreffen mit den Wolfskindern nach der Wende. Diese hätten für sie das Deutschlandlied angestimmt, und sie habe ein sehr starkes Identitätsgefühl wahrgenommen: „Sie sind alle unbedingt stolz, Deutsche zu sein“, berichtete sie in einem Interview mit dieser Zeitung, manche hätten den Wunsch, einmal „in deutscher Erde begraben“ zu werden. Damit stehen die Wolfskinder erneut allein – diesmal gegenüber einem diesbezüglich ganz anders gepolten Deutschland.

Ostermann: Das stimmt, aber daß die ehemaligen Wolfskinder ihre nationale Identität als Deutsche anders empfinden als wir, ist eigentlich klar, denn natürlich empfindet man diese anders, wenn man sie jahrzehntelang geheimhalten und unterdrücken mußte. Auch daß nationale Identität bei uns heute als „uncool“ gilt, stimmt. Komischerweise ist sie aber alle vier Jahre plötzlich nicht mehr uncool, was ja eigentlich auch etwas Tolles ist. Ich glaube, heute können wir unsere Nationalität durchaus wieder normal zeigen, vor allem wir in der dritten Generation. Wir leben zwar in einem großen, gemeinsamen Europa, aber dennoch sollten wir uns auch auf unsere nationale Identität – auf das, wer wir sind – berufen oder besser, darum wissen.

Sie sagen, Ihr Film nehme eine andere Perspektive ein als die meisten Filme über den Zweiten Weltkrieg. Was meinen Sie?

Ostermann: Ich meine die Perspektive, daß wir ... daß Deutschland ... daß Deutsche auch als Opfer – ich meine in Anführungszeichen – dargestellt werden.

Das unbefangen zu formulieren, fällt Ihnen sichtlich schwer. War das ein Problem?

Ostermann: Problem würde ich nicht sagen, aber es war erklärungsbedürftig: Ich mußte viel mehr erklären, etwa um Investoren zu finden. Dabei habe ich immer gesagt, und darüber habe ich auch lange mit den Produzenten geredet, daß ich mir sehr wohl bewußt bin, daß Deutschland diesen fürchterlichen Krieg angezettelt hat. Das darf man nicht vergessen, und das war uns allen, die wir diesen Film gemacht haben, auch immer klar: Wir wissen, daß die Schuld für diese Elendsjahre bei Deutschland liegt. Deshalb kann man aber dennoch zeigen, was damals alles passiert ist und daß auch Deutsche Opfer geworden sind, die dafür gar nichts können, nämlich Kinder – wie viele Kinder anderer Nationen natürlich auch.

Ihre ausführliche Schuldbeteuerung wirkt, als wähnten Sie sich auf einem Minenfeld.

Ostermann: Es ist schon ein Minenfeld. Man muß aufpassen, weil einem das schnell falsch ausgelegt werden kann.

Das hört sich an, als wäre unsere Gesellschaft diesbezüglich alles andere als souverän und angstfrei?

Ostermann: Das, was damals passiert ist, ist eben eigentlich noch nicht lange her. Ich glaube, daß das alles immer noch verarbeitet werden muß, und ob wir damit je entspannt umgehen können werden, ist sehr die Frage. Da muß wohl noch viel mehr Zeit vergehen. Und solange muß man vorsichtig sein, damit man nicht mißverstanden oder böswillig falsch ausgelegt wird.

Wollen Sie mit Ihrem Film zu einer Entspannung bei diesem Thema beitragen?

Ostermann: Wenn Sie darunter ein gesteigertes Interesse für die Zeit und die Schicksale der Menschen damals und eine Debatte darüber verstehen, dann ja. Geholfen hat sicher, daß 2013 der wirklich tolle Mehrteiler „Unsere Mütter, unsere Väter“ im ZDF gelaufen ist, der ja auch schon diese Perspektive eingenommen hat, daß Deutsche in diesem Krieg nicht nur Täter, sondern auch Opfer waren. Und der eine heftige, auch international geführte Diskussion um dieses Thema angestoßen hat. Wieviel ideologischer Zündstoff in dieser einfachen Tatsache steckt, hat die Debatte im Anschluß an die Ausstrahlung gezeigt.

Sie haben erklärt, Ihr Film solle kein politischer Kommentar sein. Ein Widerspruch?

Ostermann: Nein, damit habe ich etwa gemeint, daß er kein Kommentar zum Beispiel zum Verhalten der russischen Besatzungsmacht sein soll.

Im Film sieht man Rotarmisten, die das Feuer auf die Kinder eröffnen.

Ostermann: Eben, aber es geht nicht um die Rote Armee, sondern darum, wie die Erwachsenenwelt mit aller Härte auf die Kinder durchschlägt. Außerdem gibt es auch eine Szene, in der ein Rotarmist den Jungen verschont, obwohl er erkennt, daß dieser ein Deutscher ist.

Sie meinen, Sie haben die Szene als Rückversicherung gegen Vorwürfe eingebaut?

Ostermann: Nein, ich wollte zeigen, daß es solche und solche Erwachsene gibt, es kommen auch gute und böse Bauern, gute und böse Partisanen vor. Mir ging es einzig und allein um die Perspektive der Kinder, für die es nur gute Menschen, die ihnen ein Dach und Essen geben, und schlechte Menschen, die auf sie schießen oder den Hund auf sie hetzen, gibt.

Die Rote Armee hat nachweislich zahllose Verbrechen begangen, warum sollte man das nicht kommentieren? Keiner würde sich scheuen, Stellung zu beziehen, wenn etwa SS-Leute auf Kinder schießen.

Ostermann: Ich will damit auch nicht sagen, daß die Verbrechen der anderen gerechtfertigt wären. Aber der Unterschied ist, daß die SS-Leute zu der Seite gehören, die angefangen hat.

Pardon, aber das stimmt hier nicht: Litauen wurde von Rußland überfallen, die Wehrmacht marschierte dort erst später ein.

Ostermann: Ja richtig, aber ich spreche vom Angriff auf die Sowjetunion. Wir Deutsche haben in der Tat die Furcht, es könnte der Eindruck entstehen, daß wir von unserer Verantwortung ablenken wollen. Natürlich wollen wir das nicht, wir wollen nur die ganze Geschichte erzählen und dazu gehören auch die Verbrechen der anderen, was aber nicht bedeutet, daß wir auch nur im mindesten die Untaten, die von Deutschen begangen wurden, dahinter verstecken wollen. Ich wäre froh, wenn es gelingt, jenseits dieser Debatte das zu sehen, wovon der Film eigentlich erzählt, nämlich ein ergreifendes, unerhörtes menschliches Schicksal.

 

Rick Ostermann: Mit dem Film „Wolfskinder“, der ab 28. August in den Kinos läuft, gibt Rick Ostermann sein Debüt als Regisseur. Seit 2003 wirkte er als Aufnahmeleiter, Drehbuchautor und Regieassistent bei zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen mit, etwa bei „Die kommenden Tage“ (2010) oder „Meine Schwestern“ (2013) von Lars Kraume. Sein prämierter Kurzfilm „Still“ feierte 2009 auf dem Max-Ophüls-Filmfestival Premiere und lief auf zahlreichen nationalen und internationalen Filmschauen. „Wolfskinder“ (Filmplakat rechts), der 2012 in Litauen entstand, wurde erstmals auf den 70. Internationalen Filmfestspielen von Venedig gezeigt. Ostermann erhielt für ihn bereits etliche Auszeichnungen, wie den Friedenspreis des Deutschen Films 2014 oder den Franz-Werfel-Preis für Menschenrechte. Geboren wurde der Regisseur 1978 in Paderborn.

www.wolfskinder-derfilm.de

Foto: Wolfskinder Hans und Fritz im Kinofilm: „Die neue Perspektive, daß Deutsche in diesem Krieg nicht nur Täter, sondern auch Opfer waren ... eine Tatsache mit viel ideologischem Zündstoff“

 

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