© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/14 / 29. August 2014

Trommeln für den Nachwuchs
Drei Jahre nach Aussetzung der Wehrpflicht: Trotz eines millionenschweren Werbeaufwands fällt es der Bundeswehr schwer, die Reihen zu füllen
Mario Jacob

Es war viel los in der Zeit vom 14. April bis 28 Mai in Kiel. So wie im Vorjahr kamen auch in diesem Jahr zahlreiche Besucher. Die deutsche Marine hatte junge Menschen zu einem dreitägigen Besuch in den Marinestützpunkt eingeladen. Neben Informationen zu den verschiedensten Verwendungs- und Karrieremöglichkeiten bei der Marine hatten die Besucher insbesondere die Möglichkeit, an einer Seefahrt teilzunehmen und „Marine live“ zu erleben. Zudem nahmen verschiedene Schiffe der fahrenden Flotte die Besucher für einen Tag mit an Bord, stellten ihren Arbeitsplatz auf See vor. Es handelte sich um eine der vielen Werbeaktionen der Bundeswehr zur Rekrutierung von Nachwuchs.

Spätestens seit der Aussetzung der Wehrpflicht zum Stichtag 1. Juli 2011 plagen Nachwuchssorgen die Bundeswehr. Um neue Soldaten zu gewinnen, gibt die Truppe immer mehr Geld für Veranstaltungen und Werbung aus. Neben speziellen Werbeaktionen bei der Marine ist die Bundeswehr auch mit Informationsständen in Städten überall in Deutschland aktiv.

Schlechte Stimmung in der Truppe

Daneben wirbt die Truppe auch auf der Onlineseite des Jugendmagazins Bravo. In einem Video wird den jungen Lesern die Teilnahme an kostenlosen Abenteuercamps der Streitkräfte schmackhaft gemacht. Kritiker sprechen von einem Verstoß gegen die Uno-Kinderrechtskonvention.

Weiterhin arbeitet die Bundeswehr beim Werben um Nachwuchs auch verstärkt mit Sportvereinen zusammen. So gab sie im vergangenen Jahr alleine rund 453.000 Euro für Personalwerbung im Sportbereich aus, wie aus einer Antwort des Verteidigungsministeriums auf eine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht. Die Summe lag knapp 80 Prozent höher als im Vorjahr 2012, als rund 253.000 Euro für solche Werbemaßnahmen ausgegeben wurden.

Im Jahr 2012 gab die Bundeswehr mehr Geld für Personalwerbung aus als jemals zuvor – insgesamt 20 Millionen Euro. Diese Summe wurde für Werbung in Zeitungen, im Fernsehen oder im Internet investiert, um neue Soldaten anzuwerben. Mittlerweile investiert das Verteidigungsministerium jährlich rund 27 Millionen Euro in die Nachwuchswerbung.

Besonders beliebt sind Werbeaktionen in Schulen. So haben die sogenannten Karriereberater der Bundeswehr jährlich 8.700 Vorträge an deutschen Schulen gehalten. Nach Angaben der Bundeswehr seien so insgesamt rund 189.000 Schüler erreicht worden. Zudem waren die Karriereberater auf etwa 600 Ausstellungen, Jobmessen, Projekttagen oder ähnlichen Veranstaltungen aktiv. Hierbei wurden rund 96.000 Schüler erreicht. Hinzu kamen 3.300 Truppenbesuche, an denen knapp 14.000 Jugendliche und an die 300 Lehrer teilgenommen haben.

Seit Aussetzung der Wehrpflicht im Sommer 2011 hat die Bundeswehr ihre Nachwuchswerbung an Schulen intensiviert. Doch damit ist nun Schluß. Zumindest in Baden-Württemberg. Das Bundesland hat Mitte August dieses Jahres eine neue Vereinbarung mit der Bundeswehr getroffen, wonach die Jugendoffiziere die sicherheitspolitische Bildung „ausgewogen“ darstellen müßten. Im Unterricht für Tätigkeiten in der Bundeswehr zu „werben“ sei ihnen aber untersagt. Auch an einigen Schulen in Nordrhein-Westfalen wird der Bundeswehr die Nachwuchswerbung untersagt. Immer wieder wurde die Bundeswehr wegen ihres Einsatzes an Schulen kritisiert. Mittlerweile haben sich mehrere Schulen in Deutschland sogar für „militärfrei“ erklärt.

Erschwerend kommt für die Bundeswehr bei der Personalsuche hinzu, daß es um die Stimmung in der Truppe nicht gut bestellt ist. Laut einer 2013 veröffentlichten Umfrage des Verbands der Beamten der Bundeswehr (VBB) sind fast die Hälfte der Zivilbeschäftigten (rund 46 Prozent) mit der Bundeswehr als Arbeitgeber unzufrieden. Die Mehrzahl der Befragten (66 Prozent) würde die Armee als Arbeitgeber nicht weiterempfehlen. In diesem Kontext führte der VBB-Vorsitzende Wolfgang Kamm die negative Stimmung auf eine fehlerhafte Umsetzung der Bundeswehrreform zurück: „Die Reform ist eine der gravierendsten seit der Aufstellung der Bundeswehrverwaltung“, so argumentierte Kamm: „Diese Bundeswehrreform will zuviel und zu schnell und geht an den Menschen vorbei.“

Diese Meinung wird auch von den Soldaten geteilt: Nach einer Studie des Bundeswehrverbands aus dem Jahr 2012 gehen rund 90 Prozent der Führungskräfte davon aus, daß die Reform einer baldigen Korrektur bedürfe und nicht von Dauer sein werde. Das Verteidigungsministerium plant, den Umfang der Bundeswehr schrittweise auf 170.000 Zeit- und Berufssoldaten bis zum Jahr 2017 zu reduzieren.

Etwa drei Viertel der befragten Soldaten gaben in der Studie des Bundeswehrverbands an, schlecht beziehungsweise sehr schlecht an der Neuausrichtung beteiligt zu werden. Nur rund 27,3 Prozent bewerten die Reform allerdings als negativ, jedoch bemängeln 46,7 Prozent die Umsetzung der Reform. Für die Studie befragte die Technische Universität Chemnitz mehr als 1.700 hochrangige Militärs.

Die Kritik an der Bundeswehrreform kommt nicht von ungefähr. So zeigt ein Blick in andere Länder, daß diese einen hohen Preis für ihre Berufsarmeen zahlen. So muß beispielsweise der Sold vervielfacht oder aber die Ansprüche bei Bildung und charakterlicher Eignung der Rekruten drastisch gesenkt werden. Spanien nimmt Ausländer in die Armee auf und gibt ihnen als Dank die Staatsbürgerschaft.

Abnehmende Eignung zum Militärdienst

Eine heutige Analyse der Situation und Zukunft der Streitkräfte ist ohne eine genaue Betrachtung des militärischen Nachwuchses nicht möglich. Die Nachwuchslage der Bundeswehr stellt sich wesentlich prekärer dar als befürchtet und die Bundeswehr öffentlich jemals zugeben würde. Auch die neue Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen wird daran wohl nichts ändern. Offensichtlich ist vielmehr, daß die Aussetzung der Wehrpflicht einen personellen Engpaß verursacht hat, der nun kaum mehr geschlossen werden kann. Für die Bundeswehr bedeutet das, zu lernen, trotz Personalsorgen den Auftrag vollständig zu erfüllen. Dabei sind Krankheit, Urlaub und Verwundung noch nicht einmal einberechnet. Zudem gibt es noch die steten Klagen über mangelhaftes oder fehlendes Material.

Hinzu kommt die beklagenswerte Eignung der immer geringeren Zahl noch freiwillig wehrdienstleistender Soldaten. Die Defizite an physischer Belastbarkeit, Bereitschaft zum Einsatz von Leib und Leben sowie kognitiver Ernstfalltauglichkeit seien offensichtlich, beklagte Larsen Kempf, Oberleutnant zur See, in einem Beitrag des Magazins Focus. Diese lassen sich der Generation „Socialnetwork“ auch nur schwer abtrainieren. Nach Ansicht von Kempf zeichnet der gesellschaftliche Querschnitt, der sich heute freiwillig für die Bundeswehr entscheidet, ein insgesamt eher mißliches Bild. So gebe es denjenigen, der sich die Bundeswehr „nur mal anschauen“ wolle, oder denjenigen, der familiär genötigt werde. Der eher gesellschaftlich Verlorene gehöre genauso zum Rekrutenpool wie der Abenteurer.

Weiterhin beklagt Kempf die falsche Vorstellung vom Militärdienst bei vielen Bewerbern. So gebe es beispielsweise Soldaten mit Migrationshintergrund, bei denen sich soziale Schieflage oft mit geringer Qualifikation mische, die die Bundeswehr daher nicht unbegründet als Chance sähen. Auch gebe es nicht wenige Frauen, denen es nur darum gehe, sich in einem nach wie vor männlich geprägten Umfeld beweisen zu wollen. Den wenigsten Rekruten jedoch sei bewußt, daß sie mit der ihnen abverlangten Bereitschaft zum Auslandseinsatz auch potentiell Verwundung und Tod in Kauf zu nehmen haben.

Als einer der wenigen legte Marine-inspekteur Axel Schimpf die Finger in die Wunde, indem er laut einem Onlinebericht der Schweriner Zeitung beim 14. Maritimen Sicherheitskolloquium in Rostock die Personalsituation seiner Teilstreitkräfte als kritisch berurteilte. Ermutigend, so Schimpf, sei jedoch die Entwicklung der Nachwuchsrekrutierung. Es sei gelungen, mit einer Werbe- und Imagekampagne die Marine ins Bewußtsein der Menschen zu rücken. Schimpf zeigte sich zuversichtlich, daß die Lücke von rund 1.400 Soldaten geschlossen werden könne.

Die Nachwuchssorgen der Bundeswehr betreffen nicht nur einzelne Kompanien, sondern ziehen sich quer durch die ganze Truppe. So beklagt der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages, Hellmut Königshaus, auch Mängel im Sanitätsdienst: Fehlende ärztliche Fachkräfte, geschlossene Stationen in Bundeswehrkliniken und keine adäquate Praxis-EDV. Zwar konnten rund 300 neue Medizin-Studienplätze geschaffen sowie 70 Seiteneinsteiger und 30 ehemalige Musterungsärzte für den Sanitätsdienst gewonnen werden. Dennoch seien etwa 400 Dienstposten „mit Schwerpunkt in der einsatzrelevanten klinischen Intensiv- und Notfallversorgung nicht besetzt“.

Die Bundeswehr selbst sieht dies erwartungsgemäß anders. Auf der eigenen Netzeite stellt sich die Truppe als attraktiven Arbeitgeber dar. Auch sind die Nachwuchssorgen für die Bundeswehr kein Thema: Nach eigenen Angaben betrage der jährliche personelle Ergänzungsbedarf für ziviles und militärisches Personal zur Zeit rund 20.000 Einstellungen jährlich. Im vergangenen Jahr konnten diese Einstellungen aus etwa 83.000 Bewerbungen deutschlandweit realisiert werden, so die Botschaft der Bundeswehr.

 

200 Jahre Wehrpflichttradition

200 Jahre lang rekrutierte Deutschland über die Wehrpflicht junge Menschen für den Militärdienst – nur mit Unterbrechungen, die nach den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert vom Ausland erzwungen wurden. Die Wehrpflicht hat in Deutschland ihren Ursprung in den Freiheitskriegen des 19. Jahrhunderts gegen Napoleon. In der Bundeswehr erfolgte die Einführung der Wehrpflicht in den 1950er-Jahren unter Berufung auf den preußischen Heeresreformer Gerhard von Scharnhorst, der als geistiger Urheber der Wehrpflicht in Deutschland gilt. Ihm wird die Formel zugeschrieben, daß alle Bürger des Staates dessen „geborene Verteidiger“ seien. Lediglich nach 1945 gab es eine zehnjährige Lücke in bezug auf eine allgemeine Wehrpflicht. Mit dem Aussetzen der Wehrpflicht unter dem damaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU) zum Stichtag 1. Juli 2011 wurde somit eine 200 Jahre alte Tradition deutscher Armeen ohne große politische Auseinandersetzungen vom CDU/FDP-Bundeskabinett verändert – von der Freiwilligenarmee zu einer reinen Berufsarmee.

Bild: Ein Jugendoffizier stellt Gymnasiasten den Dienst an der Waffe vor (Mai 2014): Neuerdings darf die Bundeswehr in Baden-Württemberg nicht mehr im Unterricht für sich werben

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