© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/14 / 29. August 2014

Dorn im Auge
Christian Dorn

Der Tod Peter Scholl-Latours erinnert mich an die Auskunft einer attraktiven türkischen Geschäftsfrau, die ein halbes Dutzend Abtreibungen hinter sich hat: Für sie, so ihr Bekenntnis, gebe es in der deutschen Öffentlichkeit nur zwei „echte Männer“, deren Haltung noch Respekt ausstrahle: Helmut Schmidt und Peter Scholl-Latour. Hatte diese Anekdote immer nochmal Scholl-Latour berichten wollen. Aber wer zu spät kommt ...

In der U-Bahn Werbung der Internetseite www.geburt-vertraulich.de  unter dem Motto: „Schwanger und keiner darf es erfahren? Wir helfen.“ Tatsächlich, das offenbart die Internetseite, geht es um die „Entsorgung“ der Säuglinge, die später – mit dem 16. Lebensjahr – die wahre Identität ihrer Mutter erfahren sollen. Erinnere mich an jene gedankenlose Werbung vor einigen Jahren für die Babyklappe unter dem sinngemäßen Motto: „Wenn keiner Dein Kind will? Wir helfen.“ Ist die werdende Mutter, die hier ausgespart wird, denn „keiner“?

Die Welt am Sonntag berichtet über das Phänomen „Ice Bucket Challenge“, das auf die Krankheit ALS, die Amyotrophe Lateralsklerose, verweist. Was aber genau diese Modeerscheinung der eiskalten Kopfwaschung mit der Therapie der tödlichen Krankheit zu tun hat, wird an keiner Stelle erwähnt. Ich denke an eine Freundin aus der Nachbarschaft, die mir eines Tages, obgleich einige Jahre jünger, plötzlich in der Erscheinung einer Greisin gegenüberstand und mich in Zeitlupe ansprach, mir ihre gerade eröffnete ALS-Diagnose mitteilend. Wenn ich heute ihre Kinder mit dem Vater sehe, beschleicht mich ein schlechtes Gewissen: Jeder flüchtige Gruß erscheint mir wie eine Lüge. Wie soll es schon gehen, wenn „nichts“ mehr geht?

Mädel in der S-Bahn: „Ey, ich hab dir schon gesagt, daß deine Mutter mich mit so ’nem Todesblick angeschaut hat – wir müssen da raus. Aber egal, Mann – bis gleich.“

Im Café am Nebentisch sitzt eine junge Frau mit ihrer Mutter, der ein ideologisches Kulturprogramm aufgenötigt werden soll, auf daß die Tochter ihren Missionierungsdrang fortsetzen kann: „Dieser Film Töchter („Monsieu Claude und seine Töchter“) wäre doch genau das Richtige für deine kritische Einstellung gegen Multikulti, die heiraten nämlich alle Ausländer.“ Tatsächlich angeln sich die vier Töchter einen Moslem, einen Juden, einen Chinesen und Charles, einen schwarzen Franzosen. Oder sind es doch die Töchter, die geangelt werden? – Die Mutter versucht gequält, gute Miene zu machen.

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