© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  36/14 / 29. August 2014

Rußlands Umgang mit Europa
Wer will was nicht lernen?
Detlef Kühn

Eberhard Straub hat in der vergangenen Woche in dieser Zeitung einen bemerkenswerten Versuch unternommen, die Hintergründe der Ukraine-Krise aus dem Umgang des Westens mit Rußland seit dem 19. Jahrhundert zu erklären. Seine wichtigsten Thesen: Seit dem Krimkrieg 1853 bis 1856 hat der Westen, damals vertreten durch England und Frankreich, immer wieder versucht, Rußland auf seine Ausgangsposition als Großfürstentum Moskau zurückzudrängen. Der Westen habe sich dabei als Heilsbringer stilisiert, während Rußland die Rolle des Bösewichts zugewiesen wurde. Nur Preußen habe sich daran, zu seinem Vorteil, nicht beteiligt. An dieser Rollenverteilung habe auch die Existenz Sowjetrußlands seit 1918 (Siegfriede Deutschlands von Brest-Litowsk im März 1918) nichts geändert. Sie sei im ganzen 20. Jahrhundert betrieben worden und werde auch heute noch mit dem Versuch des Westens unter Führung der USA fortgesetzt, Putins Rußland aus Europa herauszudrängen. Putin habe das Recht, sich dagegen zu wehren; schließlich sei sein Land immer noch eine Großmacht oder gar Weltmacht („Der Westen will nichts lernen“, JF 35/14).

Straubs Geschichtsdeutung ist in fast jedem Punkt angreifbar, so auch seine Behauptung, „der Westen“ wolle nichts aus der Vergangenheit lernen. Die Frage, ob nicht auch der europäische Osten, vor allem vertreten durch Putins Rußland, etwas gelernt haben sollte, stellt sich für ihn nicht. Dabei ist es Putin, der bei seinen Versuchen, möglichst viel von den Territorien der vor bald einem Vierteljahrhundert untergegangenen Sowjetunion für das heutige Rußland zu retten, seine osteuropäischen Nachbarn überdeutlich an ihre negativen Erfahrungen mit der Sowjetmacht, vor allem unter Stalin, erinnert. Aber Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili genannt Stalin kommt in Straubs Geschichtsbild praktisch nicht vor. Dabei war es Stalin, der die Sowjetunion nicht nur als (mittel-)europäische Macht dauerhaft etablieren wollte, sondern auch als Weltmacht.

Das ist bekanntlich mißlungen; dennoch versucht Wladimir Putin mit seinen „eurasischen“ Zielen an diesen Traum von der Weltmacht wieder anzuknüpfen. Er will eben nicht, wie Straub ihm nachsagt, nur „Europäer unter Europäern“ sein, sondern (wieder) Weltmacht – respektiert, das heißt gefürchtet. Das erreicht man, wie der ehemalige KGB-Offizier und spätere Chef des FSB sehr wohl weiß, am besten durch den Einsatz militärischer Machtmittel. Straub scheint das nicht zu stören. Ihm genügt es, wenn Putin sich gegen die allgegenwärtige Amerikanisierung in Westeuropa wendet. Sonst hat Straub offenbar an Putins Politik nichts auszusetzen. Allerdings übersieht Straub, daß das Rußland von heute deutlich schwächer ist, als es die Sowjetunion nach dem Krieg war. Ein Land, das – abgesehen von der Rüstungsindustrie – über keine nennenswerte Industrie verfügt, dafür unter Kapitalflucht, Korruption und einer schwerfälligen Bürokratie leidet, wird allein durch seine Rohstoffe, die ja noch, meist unter schwierigen Bedingungen, gefördert und abgesetzt werden müssen, nicht zu einer Großmacht, die diesen Namen verdient.

Die Nato war die Antwort auf den kommunistischen Umsturz in der Tschechoslowakei, vor allem aber auf die monatelange Blockade West-Berlins. Die baltischen Staaten und Polen hatten nach 1990 gute Gründe, sich um Aufnahme in das Bündnis zu bemühen.

Unter den gegebenen Umständen ist bis auf weiteres nur eine Weltmacht zu erkennen, die USA. Möglicherweise gesellt sich zu ihnen in absehbarer Zeit noch ein zweiter Staat mit Weltmachtpotential: China. Rußland sicherlich nicht und die Europäische Union mit ihrer Staaten- und Völkervielfalt erst recht nicht. Diesen Sachverhalt muß man nicht gut finden, aber als geopolitische Gegebenheit erst einmal akzeptieren.

Das fällt nicht nur Straub schwer. Auch der französische Philosoph und Publizist Alain de Benoist hatte vor einigen Monaten in einem Forum-Beitrag dieser Zeitung damit seine Probleme („Der Kalte Krieg geht weiter“, JF 15/14). Auch er sah, wie Straub, die Ursache für Eskalationen im Ukraine-Konflikt ausschließlich bei den USA und der von ihnen geführten Nato.

Benoist schreibt: „Zum Zeitpunkt der deutschen Wiedervereinigung gelobten die USA feierlich, die Nato nicht nach Osteuropa ausdehnen zu wollen. Dieses Versprechen haben sie nicht gehalten. Die Nato, die zeitgleich mit dem Warschauer Vertrag von der politischen Bildfläche hätte verschwinden müssen, wurde nicht nur beibehalten, sondern bis ins Baltikum und damit bis zu den Grenzen des russischen Staates ausgedehnt. Sie verfolgt nach wie vor das gleiche Ziel: Rußland zu schwächen und einzukreisen, indem seine Nachbarn destabilisiert oder aber unter Nato-Kontrolle gebracht werden.“ Soweit Alain de Benoist; wenn Eberhard Straub nicht so auf den Krimkrieg fixiert wäre, hätte eine ähnliche Kritik auch von ihm stammen können.

Deshalb zur Erinnerung: Die Nato wurde 1949 gegründet. Sie war die Antwort auf die Etablierung eines kommunistischen Regimes in der Tschechoslowakei, vor allem aber auf die monatelange Blockade West-Berlins. Mit ihr wollte Stalin die Westmächte um die letzte Frucht ihres Sieges über Deutschland bringen, die er ihnen in Jalta als kümmerliche Gegenleistung für die militärische Räumung Thüringens, Sachsens, Anhalts und des westlichen Mecklenburgs sowie des Westens der Tschechei (Eger) 1945 versprochen hatte.

Wo und wann haben USA und Nato „feierlich gelobt“, die Nato nicht erweitern zu wollen? Warum hätten sie das tun sollen? Welchen Nachbarn Rußlands hat die Nato destabilisiert oder unter ihre Kontrolle gebracht? Wir kennen nur Georgien, von dem Südossetien und Abchasien abgetrennt wurden, allerdings mit tatkräftiger Unterstützung aus Rußland, nicht der Nato, Transnistrien, wo dasselbe zum Nachteil Moldawiens geschah und natürlich die kaltblütig annektierte ukrainische Krim.

Letztere ist übrigens nicht, wie Benoist behauptet, „seit mindestens vier Jahrhunderten (...) ein russisches Territorium, auf dem im wesentlichen russische Bevölkerung lebt“, sondern gehörte erst seit 1783 zum Russischen Reich. Vorher war die Krim über Jahrhunderte ein überwiegend von Tataren bewohntes Chanat und gehörte zum Osmanischen Reich. Die Tataren wurden von Stalin 1944 wegen angeblicher „Kollaboration“ mit den Deutschen deportiert. Die wenigen, die später wieder zurückkehren durften, wären jetzt gern bei der Ukraine geblieben.

Noch ein Wort zur Ausdehnung der Nato nach Osten: Es ging nach 1990 immer nur darum, ob westliche Nato-Bodentruppen ostwärts vorrücken sollten oder durften. Bislang ist dies jedenfalls nicht geschehen. Allerdings haben in diesem Jahr – als Antwort auf Putins Aggressivität in der Ukraine – erstmals Nato-Manöver auch unter Einsatz von Bodentruppen aus dem Westen im Baltikum stattgefunden. Das wird wohl kein Einzelfall bleiben. Die baltischen Staaten und Polen hatten jedenfalls gute Gründe, sich um Aufnahme in das Verteidigungsbündnis zu bemühen. Sonst wäre ihre militärische Lage gegenüber dem russischen Nachbarn ähnlich hoffnungslos, wie es jetzt offenkundig bei der Ukraine der Fall ist.

Deutschlands größte Schwäche ist der latente Pazifismus, der das gesellschaftliche und politische Leben überlagert und unsere Verteidigungsfähigkeit schwächt. Jetzt auch noch die Nato und die US-Führungsrolle in Frage zu stellen, wäre ein tödlicher Fehler.

In einem Punkt muß man Alain de Benoist ausdrücklich zustimmen: Der 40 Jahre bis 1989 andauernde Kalte Krieg zwischen der westlichen Welt und der (damals kommunistischen) östlichen Welt wird leider wieder fortgesetzt. Er war schon damals nicht immer „kalt“, sondern zeitweise durchaus ein „heißer“ Schießkrieg – damals drei Jahre lang in Korea mit Millionen Opfern, jetzt mit zum Teil irregulären Kräften hoffentlich kürzer und weniger blutig an der ukrainischen Ostgrenze. Die längste Zeit wurde der erste Kalte Krieg als Wirtschaftskrieg geführt; auch das kann sich wiederholen.

Den Schreiber dieser Zeilen hat der Kalte Krieg geprägt wie kaum ein anderes Ereignis – privat, beruflich und politisch. Nach der Wiedervereinigung und dem Ende der Sowjetunion hat er es für völlig undenkbar gehalten, daß sich dergleichen wiederholen könnte. Ein Irrtum!

Putin, der über dunkle berufliche Erfahrungen aus dem Kalten Krieg verfügt, erscheint jedenfalls nervenstark. Er täte jedoch gut daran, die Geschichte dieses Krieges im Zusammenhang zu studieren und besonders das Ende zu bedenken. Es war nicht die Sowjet­union, die diesen ersten Kalten Krieg gewann; vieles spricht dafür, daß Rußland auch den zweiten nicht gewinnen kann. Es könnte allerdings sein, daß Rußland dann nicht einmal mehr eine Regionalmacht ist.

Die Lehren für Deutschland? Unser Land ist und bleibt eine Mittelmacht, deren Stärke in ihrer Industrie und besonders im Export liegt. Hier ist es auch verwundbar; aber Deutschland hat ähnliche Situationen schon früher gemeistert. Seine größte Schwäche ist der latente Pazifismus, der das gesellschaftliche und politische Leben überlagert und unsere Verteidigungsfähigkeit schwächt. Die Gründe hierfür sind bekannt und gerade in dieser Zeitung oft genug erörtert worden. Die meisten Deutschen wollen eigentlich kein Militär, sondern nur eine bessere Polizeitruppe für internationale humanitäre Einsätze. Deshalb wurde auch die Wehrpflicht abgeschafft – vielleicht der größte Fehler in der deutschen Verteidigungspolitik der vergangenen Jahrzehnte.

Kurzfristig dürfte an dieser Entwicklung wenig zu ändern sein. Mittelfristig schon; man muß es nur wollen. Jetzt auch noch die Nato, ihren militärischen Schutz und die amerikanische Führungsrolle in Frage zu stellen, wäre ein tödlicher Fehler. Man muß die Amerikanisierung der Welt nicht unterstützen, braucht auch die Augen vor den vielen Fehlern, Naivitäten und sogar Verbrechen der USA nicht zu verschließen. Da sie aber derzeit die einzige Weltmacht und dazu noch unser Verbündeter sind, ist es einfach zweckmäßig, sich mit ihnen gut zu stellen, zumal sie sowieso schon in Deutschland präsent sind. Es wäre absurd, sich statt dessen auf die Seite Putins zu schlagen, der noch keinen Beleg dafür geliefert hat, daß er ein besonderer Freund der Deutschen wäre.

 

Detlef Kühn, Jahrgang 1936, war von 1972 bis 1991 Präsident des dem Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen unterstehenden Gesamtdeutschen Instituts in Bonn.

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