© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/14 / 05. September 2014

Ahmet Davutoglu. Der neue Regierungschef gibt der Türkei einen diplomatischen Anstrich
Erdogans Schöngeist
Günther Deschner

Auf den ersten Blick wirkt er mit seiner zierlichen Gestalt, seiner Brille und seinem zurückhaltenden Wesen wie ein gealterter Student oder weltfremder Fachmann für ein Orchideenfach. Doch der kleine Professor ist nicht zu unterschätzen: Schon bevor er 2009 türkischer Außenminister wurde, galt er mit seinem Werk „Strategische Tiefe“ (2001) als Experte für Außenpolitik. Ein US-Botschafter in Ankara nannte ihn einmal den „Henry Kissinger der Türkei“.

Nun ist der Politologe und Politiker am Mittwoch vergangener Woche als einziger Kandidat mit absoluter Mehrheit zum neuen Vorsitzenden der regierenden „Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung“ (AKP) gewählt worden, Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan erteilte ihm daraufhin den Auftrag zur Regierungsbildung, und das türkische Parlament bestätigte ihn als Premierminister.

Es ist eine erstaunliche Karriere, die den 1959 als Kind eines Schuhmachers im religiös geprägten zentralanatolischen Konya geborenen Ahmet Davutoğlu in gleich zwei der wichtigsten politischen Ämter der Türkei katapultiert hat.

Nach seiner Kindheit im ländlichen Osten und dem Umzug der Familie an den Bosporus besuchte er bis zum Abitur das Istanbul-Gymnasium, eine deutsche Auslandsschule. Auch deswegen spricht Davutoğlu neben Arabisch und Englisch sehr gut Deutsch. Danach studierte er Ökonomie und Politik. Verheiratet ist er mit einer Gynäkologin, mit der er vier Kinder hat.

Davutoğlu ist bekannt für seine Loyalität zu Erdoğan, dem er viel zu verdanken hat. Wie auch Erdoğan sieht er sein Land als „Ordnungsmacht, die die Verhältnisse in der Region formt“. Beide Männer ergänzen sich. Hier der emotionale Vollblutpolitiker Erdoğan, der immer wieder übers Ziel hinausschießt, dort der nüchterne Stratege Davutoğlu, der stets rational zu handeln scheint.

Beide personifizieren auf unterschiedliche Art eine zunehmend selbstbewußt auftretende Türkei, die in die Rolle einer Regionalmacht hineinwächst und der EU, den USA und dem Rest der Welt auf Augenhöhe begegnen will. Bei einem Vortrag griff er auf, daß der Türkei nachgesagt werde, „starke Muskeln, einen schwachen Magen, ein krankes Herz und einen mittelmäßigen Verstand“ zu haben. Diesen Stereotypen setzte Davutoğlu das Bild einer neuen Türkei entgegen, die „maximale Kooperation“ mit ihren Nachbarn suche und „eine Schlüsselrolle in der Region übernehmen“ wolle. Daß das Land gleichzeitig engere Beziehungen zum Westen und zu seinen islamischen Nachbarn sucht, ist für den neuen Regierungschef kein Widerspruch. Die Türkei könne „in Europa europäisch und im Orient orientalisch sein, denn sie ist beides“, postuliert Davutoğlu, der mit solchen Verbindlichkeiten der Präsidentschaft des Trommlers Erdoğan als diplomatisches Aushängeschild nach Westen dient.

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