© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/14 / 05. September 2014

Exodus in den Untergang
Christen: Einst prägten sie den Nahen Osten, nun kämpfen sie ums Überleben
Marc Zöllner

Ob in Palästina, im Libanon oder Irak: Einst prägten Christen das Leben im Vorderen Orient. Nun stehen sie vielerorts vor dem Untergang. Brennpunkt Ankawa, eine kleine Siedlung kurz vor den Toren der kurdischen Hauptstadt Erbil im Norden Iraks. Hier ist derzeit jede helfende Hand willkommen. Bis vor wenigen Wochen lebten hier noch rund 22.000 Menschen überwiegend vom Handwerk und von Dienstleistungen. Doch seit der Einnahme Karakoschs durch die Truppen des militant-islamistischen Islamischen Staats (IS) platzt die Stadt förmlich aus allen Nähten. Karakosch war die größte der christlichen Städte des Irak und selbst bereits Auffangbecken für christliche, turkmenische und schiitische Flüchtlinge, welche sich vor den Islamisten in die assyrisch geprägte Ninive-Ebene östlich von Mosul in Sicherheit zu bringen erhofften.

Als Karakosch fiel, gab man den Christen zehn Tage Zeit zu entscheiden: Entweder sie konvertieren oder sie zahlen eine hohe Sondersteuer oder sie fliehen mit nichts als den Kleidern an ihrem Leib. Den Rest, drohten die Islamisten den Bewohnern Karkoschs, erwarte der Tod durch das Schwert. Über 100.000 Menschen flüchteten nach Ankawa. Wohnraum jedoch gibt es kaum für sie. „Wir leben hier wie die Hunde“, berichtet Tofee Alabdal, einer der Flüchtlinge, dem australischen Sender SBS. „Die Welt muß uns hier rausholen.“

Kein Zweifel herrscht daran, daß den Christen des Irak dringend geholfen werden muß, wenn nötig auch mit Hilfe zur Selbsthilfe. Andernfalls, warnen assyrische Politiker, drohe der Genozid an den christlichen Ureinwohnern des Landes. Immer mehr Assyrer tragen sich mit Gedanken, nach Europa sowie in die USA auszuwandern. Allein Frankreich gewährte vergangene Woche rund 40 Familien Asyl. Kritik am somit drohenden Exodus ihres Volkes ernten die Assyrer jedoch gerade von ihrer eigenen Kirche. Die massenhafte Auswanderung der Assyrer, erklärte Louis Sako, der Patriarch der chaldäisch-katholischen Kirche des Irak, sei „eine Katastrophe, welche die Geschichte, das Erbe und die Identität dieses Volkes ins Nichts auflösen wird“.

 

Türkei

Über eintausend Jahre lang bestimmte die christliche Heilslehre die Politik des Oströmischen Reichs. In Byzanz, dem heutigen Istanbul, gründete der Apostel Andreas das Ökumenische Patriarchat, welchem heute noch über 350 Millionen Orthodoxe angehören. Überdies findet sich in Antiochia mit der Kirche des heiligen Petrus das älteste noch erhaltene Gotteshaus der Welt. Trotz alledem leben gerade einmal noch 120.000 zumeist armenische Christen in der Türkei. Nach dem Griechisch-Türkischen Krieg von 1919 flohen rund 1,2 Millionen griechisch-orthodoxe Christen nach Europa, was dem faktischen Ende des Christentums in Kleinasien gleichkam.

 

Syrien

Nach dem Libanon ist Syrien das Land mit der zweithöchsten Dichte an christlichen Bewohnern im arabischen Raum. Rund zehn Prozent aller Syrer, etwa 1,8 Millionen Menschen, bekennen sich zum orthodoxen bzw. zum katholischen Christentum. Bis zum siebten Jahrhundert stellte die syrische Gemeinde sieben Päpste; darunter den Heiligen Petrus als ersten aller Kirchenoberhäupter. Seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs 2012 sowie dem Auftreten radikalislamischer Milizen flohen jedoch schätzungsweise bis zu einer halben Million Christen in die umliegenden Staaten sowie nach Europa.

 

Irak

Gegründet vom Apostel Thomas, besitzt der Irak die älteste christliche Gemeinde der Welt. Vom ersten Jahrhundert bis in das Mittelalter hinein stellten die Assyrer das Zentrum des christlichen Orients dar. Mit dem Einfall der Mongolen sahen sich die Christen jedoch massiver Unterdrückung ausgesetzt. In der Neuzeit erholten sich die Gemeinden wieder, 1987 bekannten sich mit 1,4 Millionen Menschen rund fünf Prozent der Iraker zum Christentum. Aufgrund der Verfolgung durch Saddam Hussein sowie islamistische Milizen sank deren Anzahl jedoch auf derzeit etwa 200.000 bis 330.000 Gläubige.

 

Iran

Unter der Herrschaft der zoroastrischen Perser blieben die Christen stets eine ungeliebte und oftmals auch verfolgte Minderheit. Die Islamisierung des Iran durch die Araber wurde daher von vielen Gemeinden begrüßt. Erstmals standen den Christen offiziell Bürgerrechte zu. Nach der Eroberung Persiens durch die Mongolen sahen sich die Christen jedoch neuer Verfolgung ausgesetzt: Ein Großteil wurde ermordet, der Rest in Ghettos angesiedelt. Derzeit leben im Iran wieder rund 450.000 Christen; unter ihnen auch Tausende assyrische Flüchtlinge aus dem Irak.

 

Libanon

Der Levantestaat blickt auf eine reichhaltige christliche Geschichte zurück. Schon Jesus Christus soll hier persönlich Wunder gewirkt und Kranke geheilt haben. Nach dessen Tod habe der heilige Petrus, so die Überlieferung, die an der Küste ansässigen Phönizier bekehrt. Im zehnten Jahrhundert flüchteten syrische Christen, die so-
genannten Maroniten, nach Libanon. Seitdem stellten sie in weiten Teilen des Landes die Bevölkerungsmehrheit. Als Frankreich 1926 im Libanon die Republik ausrief, bekannten sich 84 Prozent der Einwohner zum Christentum; 2013 noch rund 40 Prozent.

 

Ägypten

Im Jahre 33 soll der Evangelist Markus das Christentum nach Alexandria gebracht haben. Von dort aus verbreitete es sich vor allem innerhalb der griechischen und jüdischen Gemeinden rasant und wurde zur bestimmenden Religion am Nil. Nach der Eroberung Ägyptens durch moslemische Heere ab 641 sowie mehrerer, rund 400 Jahre dauernder Einwanderungswellen gerieten die Kopten, wie die Ägypter von den Arabern genannt wurden, allmählich in die Minderheit. Auch die zunehmende Islamisierung des Landes, speziell unter der Regierung Mursi, drängte die Kopten mehr und mehr in die Defensive. Zehtausende verließen angesichts von Gewalt und Drohungen in den vergangenen Jahren ihre Heimat. Heute zählt Ägypten rund acht Millionen Kopten sowie etwa 27.000 Protestanten.

 

Jordanien

Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern lebten die Christen Jordaniens zusammen mit ihren moslemischen Nachbarn in relativem Einklang. Christliche Freiwillige kämpften auf seiten Mohammeds gegen das Byzantinische Reich und später auch gegen die einfallenden Kreuzritter. Religiöse Spannungen zwischen den beiden Bevölkerungsteilen waren den Jordaniern weitgehend unbekannt. Trotzdem sank der Anteil der Christen in Jordanien von rund 20 Prozent im 19. Jahrhundert auf heute drei Prozent, was insbesondere der Masseneinwanderung palästinensischer Flüchtlinge geschuldet ist.

 

Israel

Erstaunlicherweise kann das Heilige Land nur mit einer geringen Anzahl an Gläubigen aufwarten: Gerade einmal 160.000 Menschen, rund zwei Prozent der Gesamtbevölkerung, bekennen sich in Israel zum Christentum. Vier Fünftel davon sind ethnische Palästinenser, die entweder die israelische Staatsbürgerschaft besitzen oder aber dauerhaft im Land als Gastarbeiter ihren Unterhalt verdienen. Hinzu kommen rund 25.000 aus der ehemaligen Sowjetunion eingewanderte Christen.

 

Gaza–Streifen

Im Gaza-Streifen leben mit 1.300 Gläubigen rund ein Prozent Christen. Etwa 90 Prozent von ihnen gehören der griechisch-orthodoxen Kirche an. Ihre Zahl sinkt jedoch rapide. Begründet ist dies nicht nur in den anhaltenden Repressionen der radikalislamischen Hamas. Auch die Einreise- und Pilgerverbote Israels nach Bethlehem und Jerusalem erschweren den Gaza-Christen das freie Ausleben ihrer Religion. Die 50.000 Christen des Westjordanlands genießen demgegenüber größere Privilegien, was sich auch im Wachstum ihrer Gemeinden widerspiegelt.

 

Saudi-Arabien

Im 4. Jahrhundert gründete sich in Nadschran an der heutigen saudisch-jemenitischen Grenze die erste nennenswerte christliche Gemeinde. Diese wurde jedoch 524 vom jüdischen Kriegsherren Yusuf Dhu Nuwas nahezu komplett ausgelöscht und bis zu 20.000 Gläubige dabei getötet. Nach der Islamisierung der Arabischen Halbinsel verschwand die Gemeinde komplett. Heute leben etwa drei Millionen überwiegend aus Südost-asien eingewanderte Christen in den Golfstaaten, davon rund ein Drittel in Saudi-Arabien.

 

Nordafrika (Tunesien)

In der ehemaligen römischen Provinz fand die orthodoxe Ausrichtung der Kirche sowohl unter den einheimischen Berbern als auch unter den zugewanderten römischen Siedlern weite Verbreitung. Zwischen dem zweiten und dem fünften Jahrhundert stellte Tunesien überdies drei Päpste. Mit dem Fall Karthagos an die Araber 698 konvertierten die Berber jedoch zum Islam, während der Großteil der Römer wieder nach Italien floh. Heute leben nur noch rund 25.000 überwiegend katholische Christen in Tunesien.

Foto: Mar-Takla-Kloster in Maalula nördlich der syrischen Haupstadt Damaskus: Bei Überfällen von Dschihadisten auf eine der ältesten christlichen Gemeinden des Vorderen Orients wurde im April dieses Jahres die Kirche zerstört

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