© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/14 / 05. September 2014

Pankraz,
A. Christie und das Böse unter der Sonne

Vielerorts spricht man jetzt über „die Rückkehr des Bösen“. Gemeint ist damit nicht das Böse selbst, sondern die Erinnerung daran, daß es dieses „absolut Böse“ tatsächlich gibt, daß es nicht nur eine überholte Fiktion aus alten, vorwissenschaftlichen Zeiten ist, die uns moderne Soziologen und Psychologen längst rationalisiert und damit beherrschbar, eingrenzbar gemacht haben. Angesichts der Mord- und Massakerbilder aus dem Nahen Osten ist die unmittelbare, kreatürliche Angst vor dem Bösen zurückgekehrt.

Fast ist es wie in dem berühmten Kriminalroman „Das Böse unter der Sonne“ von Agatha Christie. Der spielt in einem feinen Luxushotel auf einer Sonneninsel im Atlantik, wo die Gäste perfekt umsorgt und behütet werden – und in dem plötzlich ein grauenhafter Mord passiert und die Ermittlungen des zufällig anwesenden Hercule Poirot heikelste Seelenabgründe in jedem der beteiligten Hotelgäste enthüllen. Das Böse, so kommt heraus, wohnt nicht fern von uns in irgendwelchen finsteren Höhlen, sondern es nistet mitten in uns selbst und räkelt sich gerade dann am wohligsten, wenn wir uns „unter der Sonne“ aalen.

Als Inkarnation des „absolut Bösen“ fungiert zur Zeit in den Medien der Mörder des geköpften britischen Journalisten James Foley, dessen Hinrichtung der neue „Islamische Staat“ im Nordirak in vollster Ausführlichkeit ins Netz stellte. Aber: „Dieser Mörder ist ja einer von uns“, schrieb dazu entsetzt Lizzie Dearden im Londoner Independent. „Er heißt Abdel-Majed Abdel Bary (24), bekannt als Rapper Jinny und als Lyricist Jinn. Mit seiner Karriere ging es immerhin so weit aufwärts, daß man ihn in vielen Videos sah und die BBC seine Songs im Radio spielte.“

Andere Zeitungen berichten, daß besagter Rapper schon zu Beginn des Jahres Aufsehen erregt habe, als er auf Twitter ein Bild von sich mit einem abgetrennten Kopf in der Hand plazierte. Dabei sei er doch von früher Jugend an „nur von gemäßigten Imamen“ erzogen worden, wie auch die meisten anderen der gut tausend „jungen Briten“, die sich inzwischen freiwillig als Kämpfer beim IS angemeldet hätten. Wo komme das denn her? Wie könne es sein, daß sich junge Briten freiwillig zu scheußlichen Mördern machten?

Ja, wie kann das sein? Pankraz hat zu dieser Frage ein ganzes dickes Buch geschrieben („Das Böse und die Gerechten“, Edition Antaios, Schnellroda 2005), wo er dieses Problem aus allen nur möglichen Richtungen genau anzuleuchten versuchte. Sein Resümee schließlich, weitgehend in der Tradition Immanuel Kants: Das Böse ist eine Tat der Freiheit, wir können es wählen oder sein lassen. Es gibt ein „moralisches Minimum“, das uns Menschen einverseelt ist und dessen Entweder-Oder-Struktur auch das schlichteste Gemüt versteht. Wir müssen entscheiden und sind letztlich für unsere Entscheidung voll verantwortlich.

Das Vertrackte dabei: Das Böse hat durchaus existentielle Argumente für sich, die verführerisch funkeln, vor allem für Intellektuelle. Da ist etwa die „Interessantheit“ des Bösen. Aus einer gewissen Perspektive heraus erscheint das Gute als langweilig, als unlebendig, als totes Regelwerk für Unbedarfte, denen jede Kreativität abgeht, und das Böse wird folglich verehrt als Born der Kreativität. Von der „beauté du diable“ sprach Baudelaire, der „Schönheit des Teufels“. Und Schumpeter schwelgte in der „schöpferischen Zerstörung“, die notwendig sei, damit überhaupt etwas Neues zustande komme.

Und da ist weiter die „Reinheit“ des Bösen, seine Radikalität. Das Gute muß sich ja notwendig auf Kompromisse einlassen, manchmal sogar auf ziemlich faule, denn wie anders sollte denn jener allgemeine Konsens zustande kommen, der die divergierenden Interessen friedlich gegeneinander abwägt? Einzig das Böse ist rein, und deshalb stehen auch die angeblich allervernünftigsten Gesellschaftstheorien, Gesellschaftsutopien, irgendwie im Zeichen des Bösen, und immer wenn man darangeht, eine solche Utopie zu verwirklichen, führt das, um mit Johann Peter Hebel zu sprechen, „hinaus zu bösen Häusern“.

Klar ist jedenfalls: Gerade weil wir frei sind gegenüber dem Bösen, müssen wir wachsam bleiben, nicht nur gegenüber unseren eigenen diversen inneren Antrieben, sondern auch gegenüber Herrschaftsformen und Gesellschaftsmodellen, religiös inspirierte inbegriffen. Eine Gemeinschaft wird ehrlicherweise nie von sich sagen können, jetzt habe sie es geschafft, jetzt sei das Zeitalter der Humanität angebrochen, von den erreichten ethischen Standards komme niemand mehr herunter. Das Gegenteil ist der Fall. Die Möglichkeit zur Barbarei wohnt weiter direkt neben der Humanitas.

Es gibt keine qua Struktur gegenüber dem Bösen resistente Herrschaftsform, heiße sie nun „leviathan“ à la Thomas Hobbes oder „volonté générale“ à la Jean-Jacques Rousseau, Diktatur oder Demokratie. Das Böse ist den Herrschaftsformen gegenüber gewissermaßen wertneutral, es nistet in allen, wenn auch besonders ausgebreitet in Herrschaftsformen, die sich als endgültige Lösungen begreifen, als kompakte, nach allen Seiten hin abgeschottete Systeme, die zugleich Türöffner zum Paradies zu sein begehren.

Das schicke Luxushotel in dem Roman von Agatha Christie heißt übrigens in ironischer Anspielung „Jolly Roger“; Jolly Roger ist im Englischen der Name für die bekannte schwarze Piratenflagge mit dem Totenschädel und den gekreuzten Armknochen. In einer späteren Verfilmung des Romans (1982 mit Peter Ustinov) wurde das Hotel dann voller Biedersinn in „Chez Daphne“ umbenannt; man wollte der Wahrheit, die auch im Zeichen des Fortschritts unter der Sonne waltet, nicht ins Auge sehen.

Die Wahrheit aber hat schon Kant 1794 in seiner Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ bedachtsam formuliert: Jede Erziehung zum Guten könne lediglich eine Hoffnung sein, die immer konterkariert werde durch die stetige Bedrohung durch das Böse, welches vorm Tor der Freiheit steht.

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