© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/14 / 05. September 2014

Bundesregierung vermischt das Vertriebenengedenken mit dem Weltflüchtlingstag
Versöhnung mit uns selbst
Gernot Facius

In ihren Koalitionsvertrag haben CDU, CSU und SPD im Herbst 2013 den schönen Satz hineingeschrieben: „Wir halten die mahnende Erinnerung an Flucht und Vertreibung durch einen Gedenktag lebendig.“ Ein „Herzensanliegen“ ihres Verbandes werde erfüllt, freute sich die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach (CDU). Dann herrschte lange Schweigen auf der Berliner Bühne. Unterdessen beschlossen Bayern, Hessen und Sachsen voranzugehen: Jeweils am zweiten September-Sonntag wird in den drei Ländern der Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation gedacht. Das weckte Hoffnungen, die Bundesregierung werde sich dem anschließen und einen Gedenktag ausrufen, der vor allem das Leid der Millionen deutscher Vertriebener in den Mittelpunkt stellt. Das Kabinett Merkel-Gabriel hat nun anders entschieden: Die versprochene „mahnende Erinnerung“ wurde auf den 20. Juni gelegt, quasi als Anhang zum jährlichen „Weltflüchtlingstag“.

Noch immer gilt es als politisch unkorrekt, über Deutsche als Opfer zu sprechen. Deshalb die permanenten Versuche, die Vertreibung der Deutschen aus ihren Siedlungsgebieten mit einer unreflektierten Ursache-Wirkung-Theorie zu relativieren.

Wer nach den Gründen sucht, wird schnell fündig: Es gab von Anfang an unterschiedliche Vorstellungen in der Großen Koalition. Ein Gedenktag dürfe sich nicht auf die deutschen Vertriebenen konzentrieren, „sonst hätten wir erhebliche Einwände“, hieß es auf sozialdemokratischer Seite. Es müsse der „europäische Kontext“ beachtet werden. „Dieser Tag“, warnte daraufhin Erika Steinbach, „darf nicht im Allgemeinen verschwimmen.“

Genau das ist jetzt zu befürchten, auch wenn Steinbach (aus Parteiinteresse?) von einem „guten Tag für die deutschen Heimatvertriebenen“ spricht. Es ist die Angst vor negativen Reaktionen aus den Vertreiberstaaten, die eine Einigung auf ein klar konturiertes nationales Gedenken verhindert. Noch immer gilt es als politisch unkorrekt, über Deutsche als Opfer zu sprechen, während es als korrekt galt, den Verlust der Ostgebiete als gerechte Strafe für die NS-Verbrechen zu akzeptieren. Dieses Denkmuster prägte die Debatten um das Dokumentationszentrum der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ in Berlin, und es bestimmte auch die Diskussion über einen Gedenktag. Deshalb die permanenten Versuche, die Vertreibung der Deutschen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten ausschließlich im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik zu betrachten und mit einer unreflektierten Ursache-Wirkung-Theorie die Monstrosität des Vorgangs zu relativieren. Dabei haben selbst US-Parlamentarier wie Carroll Reece und William Langer von Völkermord gesprochen. Der US-Historiker R. M. Douglas nennt die Vertreibung einen der „größten Fälle von Menschenrechtsverletzungen“ in der modernen Geschichte.

„Wie wir alle wissen“, sagt der amerikanische Völkerrechtsexperte Alfred de Zayas, „wurde kein Mensch wegen der Vertreibung und Verschleppung der Deutschen oder der unzähligen dabei begangenen Gewalttaten bestraft. Statt dessen wurden in den Vertreiberstaaten Straffreiheitsgesetze und Amnestie­gesetze erlassen.“ In der Tschechischen Republik bekannten sich, wie Anfang des Jahres eine Umfrage des Prager Meinungsforschungsinstitutes CVVM ergab, 50 Prozent zum Fortbestand der rassistischen Beneš-Dekrete, die 1945 die Grundlage der Enteignung und Vertreibung der Sudetendeutschen bildeten. 2005 waren noch 64 Prozent dieser Meinung, die Zahl der Verteidiger ist mithin zurückgegangen, aber sie ist immer noch zu hoch für einen Staat, der seit mehr als zehn Jahren der „Wertegemeinschaft“ EU angehört. Der jüngste Präsidentschaftswahlkampf in Tschechien von 2013, aus dem Miloš Zeman als Sieger hervorging, gilt im übrigen als Beweis, daß an der Moldau nationalistische Tiraden noch immer erfolgversprechend sind. Eine traurige Bilanz, 25 Jahre nach der „Samtenen Revolution“.

Beim Erinnerungstag an die Vertreibung sollte es zunächst jedoch um etwas anderes gehen: um die Versöhnung der Deutschen mit sich selbst; der vertriebenen Minderheit mit der einheimischen Mehrheit, in einem Land, das von den Ost-, Südost- und Sudetendeutschen oft genug als „kalte Heimat“ (Andreas Kossert) empfunden wurde. „Wir dürfen also“, sagte Manfred Kittel, Gründungsdirektor der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ 2010 bei einem Vortrag im Bayerischen Landtag, „bei aller Sensibilität für die europäische Dimension des Themas, vor unserer eigenen Trauerarbeit als Deutsche nicht fliehen.“ Das Bemühen, Vertriebene als Opfer anzuerkennen, ist nicht nach außen gerichtet, sondern auf die innerdeutsche Mehrheitsgesellschaft und auf „den Mythos von der erfolgreichen, solidarischen Integration“ (Kossert).

Schätzungsweise jeder vierte in Deutschland hat heute Vertriebene in seiner Familie – Großeltern, Eltern oder Schwiegereltern. „Die Generation der Enkel weiß häufig nur, daß der Opa irgendwo aus Ostpreußen stammt oder die Oma aus dem Sudetenland“, schreibt die WDR-Autorin Gudrun Wolter. „Doch wie ihr Lebensweg verlief, welche Kraft der Neuanfang gekostet hat, wieviele Demütigungen sie erlitten, wie viel Zorn und wie viele Tränen sie herunterschluckten, um ihr Ziel, endlich wieder dazuzugehören, nicht aus den Augen zu verlieren – das haben die Alten nicht erzählt und die Enkel nicht gefragt.“ Das millionenfache Leid, das die Vertreibung mit sich brachte, wurde beschwiegen, verdrängt, auch von Angehörigen der Erlebnisgeneration. Ja selbst Organisationen der Heimatvertriebenen ließen sich angesichts des politischen und medialen Dauerfeuers („Geschichte soll umgeschrieben werden“) in die Defensive drängen.

Eine Folge von all dem sei, gibt der Berliner Historiker Arnulf Baring zu bedenken, daß die Traumata an die Kinder und die Enkel weitergegeben würden. Viele leiden unter ähnlichen Langzeitbelastungen, wie sie bei Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen diagnostiziert worden sind. Mit zunehmendem Alter brachen auch bei vielen, die gelernt hatten, sich einzufügen und die Demütigungen zu vergessen, Wunden wieder auf. „Mir ist schon klar“, sagte der 2013 verstorbene sudetendeutsche Autor Peter Kurzeck (Jahrgang 1943), „daß ich aus einem Land komme, das es nicht mehr gibt, und trotzdem kann man nicht aufhören, Spuren dieses Landes zu suchen“.

Auf die jahrzehntealten Verletzungen spielte auch der heutige Bundespräsident Joachim Gauck an, als er 2006 erklärte, es sei weder den Psychen der Beteiligten noch der Vernunft förderlich, wenn derartige Traumata nicht im kollektiven Gedächtnis der Nation aufbewahrt würden: Was bislang in speziellen Erinnerungsbiotopen der Vertriebenen gefördert worden sei, sollte „in den großen Rahmen des öffentlichen Gedenkens integriert und auch Teil der staatlichen Geschichtspolitik werden“. Es sei keineswegs ein Paradigmenwechsel angesagt, der deutsche Schuld leugnen und die Nation als Hauptopfer darstellen wolle. Gauck: „Es geht allerdings um eine Paradigmen-Ergänzung, die das Leid Unschuldiger als solches wahrnimmt, ernst nimmt und – wo möglich – betrauert.“ Diese Ergänzung ist in der Tat überfällig.

Die Revanchismuskampagnen gegen die Heimatvertriebenen und ihre Verbände, ausgelöst von der Propaganda des kommunistischen Blocks und gierig aufgesogen von sich fortschrittlich gebenden Politikern, Medien und dem von den Achtundsechzigern geprägten linken Kulturmilieu im Westen, sind zwar in sich zusammengebrochen, aber einige Giftspritzer wirken nach. Der verstorbenen Autorin Karin Struck war es passiert, daß ihr erster Verleger ihr das Kapitel „Die Heimat“ ihres Romans „Die Mutter“ (1975) monatelang auszureden versuchte. Er hatte Angst, daß die Schilderung von Strucks Mutter in Pommern als „Vertriebenenthematik“ und damit als revanchistisch interpretiert werden könnte.

Heute kaum noch denkbar, die Regale der Buchhandlungen sind gefüllt mit Heimat-Titeln. Es hat sich etwas verändert. Nur die deutsche Politik hat mit der Erinnerung an die Vertreibung Probleme. Das zeigt sich nun auch im Beschluß, das Vertreibungs-Gedenken auf den „Weltflüchtlingstag“ abzuschieben. Wie Erika Steinbach sagte: Ein solcher Tag dürfe nicht „im Allgemeinen verschwimmen“.

Daß es auch anders geht, dafür liefert das in jüngster Zeit häufig gescholtene Ungarn ein Beispiel. 2013 wurde erstmals ein nationaler Gedenktag für die vertriebenen Deutschen begangen. Das Parlament in Budapest hatte ihn ohne Gegenstimmen beschlossen.

Daß es auch anders geht, dafür liefert das in jüngster Zeit häufig gescholtene Ungarn unter Viktor Orbán ein Beispiel. In Erinnerung an den Tag des Jahres 1946, an dem der erste Deportationszug nach Westen rollte, wurde am 19. Januar 2013 erstmals ein nationaler Gedenktag für die vertriebenen Ungarndeutschen begangen (JF 51/12 – 1/13, JF 4/13). Das Parlament in Budapest hatte ihn ohne Gegenstimmen beschlossen. In Ungarn, so der Historiker Krisztián Ungváry im Deutschlandradio Kultur, „ist ein solcher Tag eigentlich natürlich“, weil die Vertreibung der Deutschen in der ganzen Bevölkerung als ein Verbrechen angesehen werde: „Man schämt sich dafür, und man hat sich ja auch immer dafür entschuldigt seit der Wende.“ 2006 äußerte der damalige ungarische Staatspräsident László Sólyom die Hoffnung, daß die Ungarndeutschen „hier wieder zu Hause sind“. Die Vertreibung der Deutschen sei auch in seinem Land lange Zeit ein Tabuthema gewesen. Nach der Wende habe man aber sofort die Rechtswidrigkeit der Maßnahmen erkannt und zugegeben, „daß die Schwaben unschuldig gelitten haben“.

Von solchen Gesten sind Polen und die Tschechische Republik noch weit entfernt. Ihr politisches Personal hat Mühe, auch Deutschen einen Opferstatus zuzuerkennen. Dabei ist das Prinzip der Gleichheit an Würde und Rechten, 1948 von der UN-Vollversammlung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verkündet, in der Europäischen Menschenrechtskonvention (1950) und im Uno-Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) fest verankert. Das bedeutet: Die Gleichheit an Würde schließt auch die Gleichheit der Opfer ein. Es darf keine privilegierten Opfer geben, „keine politisch korrekten Opfer neben solchen, die wir einfach vergessen können“ (Alfred de Zayas).

Die Normalgesellschaft, schrieb 2006 der Osteuropa-­Historiker Karl Schlögel, schulde den Heimatvertriebenen etwas, zumindest die Pflege ihrer Erinnerung, die Arbeit am kulturellen Erbe und Gedächtnis: „Die Transformation Nachkriegsdeutschlands dürfte erst abgeschlossen sein, wenn die geistige Aneignung der verlorenen kulturellen Provinzen vollzogen ist.“

Ein nationales Gedenken an das Schicksal von rund 15 Millionen Deutschen wäre wenigstens ein Anfang. Die Vermischung mit dem „Weltflüchtlingstag“ weist leider in eine andere Richtung. Es ist der Versuch, mit politischer Kosmetik sich eines leidigen Themas zu entledigen. Und dafür nimmt man auch eine Relativierung des an Deutschen begangenen Unrechts in Kauf.

 

Gernot Facius, Jahrgang 1942, war stellvertretender Chefredakteur der Tageszeitung Die Welt. Er arbeitet heute als freier Journalist. Facius ist seit 25 Jahren Mitglied der Gesellschaft Katholischer Publizisten (GKP). Auf dem Forum schrieb er zuletzt über Ostern und den Sühnetod Christi („In der Pluralismusfalle“, JF 17/14).

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