© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  37/14 / 05. September 2014

Optimismus wäre nur Verblendung
Imperium oder autoritärer Staat: die Thesen des Althistorikers David Engels zur Zukunft der EU
Peter Michael Seidel

Das Bedürfnis vieler Menschen nach historischer Orientierung in einer komplexer werdenden Welt ist ein wiederkehrendes Phänomen besonders in Krisen- und Umbruchzeiten. Ziel des deutsch-belgischen Historikers David Engels, Professor an der Freien Universität Brüssel, ist es denn auch, seine Thesen über „die Krise der Europäischen Union und den Untergang der Römischen Republik. Historische Parallelen“ einer „vertieften öffentlichen Diskussion zu unterziehen“. In Frankreich, wo das Buch vor gut einem Jahr zuerst erschien, ist ihm dies gelungen, so daß das Buch jetzt als Rückübersetzung auf deutsch erscheint – mit dem überraschenden Obertitel „Auf dem Weg ins Imperium“.

Die französische Debattenkultur zeichnet sich traditionell durch die Veröffentlichung kontroversester Debattenbeiträge aus. Und offenbar mit dem Gespür eines Landes, das sich seit Jahren wirtschaftlich und hinsichtlich seiner Identität vor wachsenden Problemen sieht, beschäftigt es sich gerade auch in Kreisen seiner Eliten kritisch mit seiner Rolle in Brüssel und der Welt. In einem Kommentar zu seinem Buch wird Engels hier ganz deutlich: „Und schließlich befindet sich Frankreich in einer tiefen Identitätskrise, da die Idee der ‘Grande Nation’ ein Auslaufmodell geworden ist, so daß eine grundsätzliche Reflexion über Identität und historischen Determinismus auf offene Ohren stieß.“ Auch ohne historischen Determinismus sind die Zeichen an der Wand zu erkennen, nicht nur in Frankreich.

Engels untersucht zwölf Themenkomplexe der Gesellschaften in der EU, bei denen er eindrucksvoll historische Parallelen zum alten Rom herausarbeitet. Vor allem gelingt ihm dies bei den ersten vier Kapiteln, die mit „Toleranz“, „Respekt gegenüber menschlichem Leben“, „Gleichheit“ und „Selbstverwirklichung“ überschrieben sind. Hier sind durchaus „Megatrends“ zu erkennen, die auch in Europa wirken, wie Bevölkerungsschwund, verschlechterte Paarbeziehungen und wachsender Egoismus. Engels ist deshalb eher pessimistisch: „Es gibt Zeiten in der Geschichte der Menschheit, in denen Optimismus einfach nur Feigheit und unverantwortliche Verblendung bedeutet.“

Genuin europäische Werte werden ausgeblendet

Der zentrale Punkt ist bei Engels die Art europäischer Wertediskussionen: Von der EU-Verfassungsdiskussion bis zu aktuellen Debatten zeigt Engels mit wünschenswerter Klarheit, daß die von der EU vertretenen Werte allesamt internationale Werte sind, während genuin europäische Werte konsequent ausgeblendet werden, so als verstehe die EU sich nur als internationale Vorstufe zum angestrebten Weltstaat, „eine leere Hülle“. Dies ist in der Tat ein wich-tiger Hinweis, der die Hohlheit heutiger europäischer Wertediskussionen zeigt, die wenig Willen zur Bewahrung des genuin europäischen Selbst erkennen läßt, wie beispielsweise die Diskussion um die Aufnahme der christlichen Basis Europas in die Präambel der früheren Verfassungsvertrages zeigte.

Wer die Essenz des Buches, die Antwort auf die behandelten zwölf Themenbereiche in Kurzform, auf fünf Seiten zusammengefaßt haben will, dem ist damit im Postscriptum sehr gut gedient. Engels spricht vom „multikulturellen Europa mit seiner Schuldkultur“, von „fehlgeleiteten erzieherischen Idealen“, dem „allmählichen Verschwinden des Gefühls für die gesunde Mitte“, der „Idealisierung des wie auch immer gearteten ‘Anderen’“, dem „universalistischen Vertrauen in Quantität vor Qualität“, der Infantilisierung des Bürgers und der Diktatur des ‘politisch Korrekten’“. Allerdings ist seine Auffassung, die Schaffung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sei „ein zentrales Anliegen der Bürger“, doch eher Wunschdenken, zumal er an anderer Stelle durchaus realistisch konstatiert, daß der heutige Staat „eher die Aufrechterhaltung des Status quo als seine dynamische Weiterentwicklung anstrebt“.

Engels sieht die EU allerdings auch auf dem Weg ins Imperium und in ein autoritäres Regime, das er mit dem des Augustus vergleicht. Ersteres wird allerdings nicht sehr überzeugend belegt. Wer soll denn in der EU der „Motor der Imperiumsbildung“ sein? Derzeit gibt es hierfür kein Indiz, und es ist auch nicht absehbar, wo der sich bilden sollte. In der Bevölkerung jedenfalls dürfte damit sicher kein Blumentopf zu gewinnen sondern eher Wahlen zu verlieren sein. Ernster zu nehmen ist der Hinweis, die EU könnte sich zu einem autoritären Staat entwickeln, zu einem „Superstaat“ wie die Briten befürchten, der sich nicht nur in viele Bereiche der Mitgliedstaaten einmischt, sondern moralisch angelegte politische Zensuren und Sanktionen ausspricht, wie beispielsweise vor Jahren bereits auf der Stockholmer Konferenz die Ächtung der schwarz-blauen Koalition in Österreich.

Wer Engels Buch zur Hand nimmt, denkt schnell an seinen berühmten Vorgänger, Edward Gibbons mehrbändiges Werk über „Verfall und Untergang des Römischen Reiches“, in dem er im 18. Jahrhundert die Ursachen dafür interpretierte. Interessanterweise sah Gibbon den Beginn des Verfalls aber nicht im Übergang von der Republik zum Kaisertum des Augustus, sondern viel später, und er hat damit auch die größere Plausibilität auf seiner Seite, gerade wenn man wie auch Engels ausführlich auf die gesellschaftliche Entwicklung schaut. Auch für seine These von der Verwandlung der EU in ein autoritäres Regime wäre es jedenfalls nicht nötig gewesen, hier eine Analogie zum Römischen Reich zu konstruieren. Ein „Augustusfriede“ ist etwas anderes als die Durchsetzung (nicht nur) der Römischen Verträge!

Es gibt Gründe dafür, daß sein Buch zuerst in Frankreich erschienen ist. Engels nennt im Vorwort zur französischen Ausgabe den Mut, „in einer Zeit, in der nur wenige politische Verleger weiter als bis zur nächsten Legislaturperiode zu denken vermögen, als erster diese ‘unzeitgemäßen Betrachtungen’ zu veröffentlichen“. Im deutschen Vorwort hebt er sein Anliegen hervor, „das ganze Ausmaß der Krise (…) objektiv und frei von Angst vor ‘politischer Unkorrektheit zu erfassen’“. Dies ist ihm weitgehend gelungen. Ob damit wirklich „Perspektiven für die anstehenden ‘Jahre der Entscheidung’ eröffnet“ werden, bleibt beim gegenwärtigen Stand der europäischen Diskussion allerdings offen.

David Engels: Auf dem Weg ins Imperium. Die Krise der Europäischen Union und der Untergang der Römischen Republik. Historische Parallelen. Europa Verlag, Berlin 2014, gebunden, 544 Seiten, 22,99 Euro

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