© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

„Das Ende Großbritanniens“
Schottlands Unabhängigkeit steht auf Messers Schneide. Warum? Und was steckt hinter dem Wunsch der Schotten, sich nach 307 Jahren von Großbritannien zu lösen? Der Kulturhistoriker und Schottland-Experte Murray Pittock gibt Antwort.
Moritz Schwarz

Herr Professor Pittock, warum hat die Ja-Kampagne für Schottlands Unabhängigkeit in den Umfragen zuletzt so aufgeholt?

Pittock: Unter anderem weil es der „Zusammen geht es besser“-Kampagne – die sich für den Verbleib Schottlands in der Union einsetzt – nicht gelungen ist, eine überzeugende Vision von einem Wandel zu entwickeln. Und das Bedürfnis nach Wandel im Land ist groß, größer als die Zustimmung zur Ja-Kampagne.

Um was geht es den Schotten: Um nationale Identität oder darum, sich durch Separation wirtschaftliche Vorteile zu verschaffen?

Pittock: Die schottische Identität ist sehr ausgeprägt. In den Tagen des britischen Weltreichs konnte man sich noch problemlos als kanadisch-britisch oder schottisch-britisch betrachten, weil „britisch“ eine übernationale Kategorie war. Seit dem Ende des Empires aber ist britisch zur nationalen Kategorie geworden.

Dennoch werden viele patriotische Schotten am 18. September voraussichtlich mit Nein stimmen. Wie paßt das zusammen?

Pittock: Der Grund ist – und das wird Sie jetzt vielleicht erstaunen –, daß die Frage der Identität nicht im Mittelpunkt der Unabhängigkeitsdebatte steht.

Sondern?

Pittock: Es geht vielmehr um Fragen des wirtschaftlichen Vorteils, der Wahrnehmbarkeit Schottlands in der Welt und um die Frage nach der Entwicklung der Gesellschaft. Zwar hat die Union mit England den Schotten über Jahrhunderte Zugang zu überseeischen Märkten eröffnet, seit dem Verschwinden des britischen Weltreichs jedoch hat sich einiges verändert. Heute lastet der Druck der Globalisierung auf dem Land, und es ist für Schottland ein Nachteil, daß die Marke Schottland in der Welt nicht richtig wahrgenommen wird, weil sie stets hinter der des Vereinigten Königreichs verschwindet. Von diesem Wettbewerbsnachteil möchten sich viele befreien. Dazu kommt, daß sich die englische und die schottische Gesellschaft auseinanderentwickeln. Die schottische Gesellschaft ist eher egalitär, sozusagen skandinavisch. So haben etwa die Torys in den letzten 17 Jahren keinen Parlamentsabgeordneten aus Schottland mehr gehabt. Oder nehmen Sie die UK Independence Party von Nigel Farage: Diese hat in England eine dreimal so große Wählerschaft wie in Schottland, und sie wurde sogar von der Beteiligung an der „Zusammen geht es besser“-Kampagne ausgeschlossen, weil man fürchtete, daß eine Unterstützung durch die Ukip eher schaden würde. „Dank“ dieser Entwicklung und dem Übergewicht Englands hat Schottland nun schon seit Jahrzehnten eine Regierung nach der anderen – nämlich die in Westminster –, die von der großen Mehrzahl der Schotten gar nicht gewählt wurde. Und Modernisierung bedeutet heutzutage eben auch, selbst über die eigenen Belange entscheiden zu können.

Wenn die schottische Identität so ausgeprägt ist, warum spielt sie dann in der Unabhängigkeitsdebatte nicht die Hauptrolle?

Pittock: Weil nach dem letzten Aufstand gegen die britische Dominanz 1746 die schottischen Eliten zu einer Stütze des Empires geworden sind. So verlosch die schottische Identität zwar nie, aber sie fand keinen politischen Ausdruck. Dadurch hat sich in Schottland ein Nationalismus entwickelt, der eher oppositionell als rebellisch ist. Es geht ihm eher um die Bewahrung der schottischen Identität, als etwa darum, wie 1916 bei den Iren, aus dem Staat auszubrechen. Erst nach dem Ende des Empires und mit der Entkolonialisierung nach 1945 kam das Thema des schottischen Nationalismus ab etwa den sechziger Jahren wieder auf den Tisch. Allerdings nicht unbedingt mit dem Ziel einer Unabhängigkeit, sondern vor allem mit dem Wunsch nach einer angemessenen Repräsentation Schottlands innerhalb der Union. Da man darauf allerdings in London im Lauf der Jahrzehnte nie eine richtige Antwort gefunden hat und da sich – wie gesagt – die Gesellschaften Englands und Schottlands zudem auseinanderentwickelt haben, sind wir nun doch so weit, daß die Unabhängigkeit auf der Tagesordnung steht.

Auch ein unabhängiges Schottland will das Königshaus behalten. Warum?

Pittock: Weil die Situation nicht etwa mit der in Katalonien zu vergleichen ist, wo die Unabhängigkeitsbewegung auch den spanischen König loswerden möchte. Sie gleicht vielmehr der in Kanada oder Australien, die beide trotz Unabhängigkeit die Monarchie beibehalten haben. Der Grund ist, daß die Schotten an ihrer Monarchie hängen. In Schottland sind die Windsors schließlich nicht Könige von England, sondern Könige von Schottland.

Großbritannien entstand 1707 durch den Zusammenschluß von England und Schottland. Was passiert, wenn Schottland nun unabhängig werden sollte?

Pittock: Dann hört Großbritannien eigentlich auf zu existieren. Und übrigens ebenso das Vereinigte Königreich, denn auch dazu ist ein zweites Königreich – Schottland – nötig. Wales ist ja nur ein Fürstentum und Nordirland nur eine Provinz. Die Frage ist also, wie dieser verbleibende Rest dann heißen könnte? Kleinbritannien oder nur Britannien? Gute Frage. Vielleicht belassen sie es aus technischen Gründen auch bei Großbritannien oder Vereinigtem Königreich, aber historisch gesehen wäre das nicht haltbar.

Ist bei einer Abspaltung Schottlands Englands Status als europäische Mittelmacht in Gefahr, oder ist Schottland mit seinen nur fünf Millionen Einwohnern zu klein?

Pittock: Ich glaube, daß das für England als Mittelmacht einen Abstieg bedeuten würde. Schottlands Bedeutung für Europa würde wachsen, Englands Bedeutung dagegen, das inzwischen sowieso unter seinem Insularismus leidet, schrumpfen.

Wenn die Unabhängigkeit am 18. September aber doch scheitert, dann am Geld?

Pittock: Ja. Es gab Umfragen, bei denen ein dickes „Ja“ herauskam, wenn die Leute durch die Unabhängigkeit mehr verdienen würden. Tatsächlich aber verbinden viele damit ein ökonomisches Risiko. Wenn das Referendum scheitert, dann wegen finanzieller Bedenken.

Ist die Frage dann erledigt oder folgt in ein paar Jahren das nächste Referendum?

Pittock: Das Thema wird auch bei einer Niederlage nicht verschwinden, dazu wurzeln die Ursachen zu tief.

Wie wird die Volksabstimmung ausgehen?

Pittock: Das kann Ihnen keiner sagen. Es steht auf Messers Schneide.

Und wie werden Sie abstimmen?

Pittock: Natürlich mit Ja!

 

Prof. Dr. Murray Pittock, der Kulturhistoriker ist Experte für schottische Literatur und Kulturgeschichte. Er lehrt seit 2010 Literatur an der Universität von Glasgow, zuvor in Edinburgh, Aberdeen, Strathclyde und mehreren ausländischen Universitäten, etwa in Yale. Geboren wurde er 1962 im schottischen Aberdeen.

Foto: Demonstration für die schottische Unabhängigkeit im Mai nahe Edinburgh: „Seit Jahrzehnten haben die Schotten Regierungen, die die große Mehrheit von ihnen nicht gewählt hat“

 

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