© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

Die Zweifel der Eltern
„Gorch Fock“: Auch sechs Jahre, nachdem die Kadettin Jenny Böken vor Helgoland ertrunken ist, geben die Todesumstände Rätsel auf
Felix Krautkrämer

Es ist der 3. September 2008, 22.15 Uhr. Die Offiziersanwärterin Jenny Böken hat gerade die Wache „Ausguck Back“ auf der „Gorch Fock“ angetreten – dem Segelschulschiff der Deutschen Marine. Es herrscht Windstärke 6 bis 7 über der Nordsee, etwa 15 Kilometer vor Norderney. In zwei Tagen hat Jenny Böken ihren 19. Geburtstag. Doch sie wird ihn nicht mehr erleben. Gegen 23.45 Uhr geht die Kadettin über Bord. Ein Rettungsmanöver bleibt ohne Erfolg. Jenny Böken ertrinkt im 15 Grad kalten Wasser. Zwölf Tage später entdeckt das Fischereiforschungsschiff „Walther Herwig III“ ihre Leiche 65 Seemeilen nordwestlich von Helgoland.

Auch sechs Jahre später läßt der Tod ihrer Tochter Jennys Eltern nicht los, zumal die Umstände, wie und vor allem warum die junge Frau über Bord ging, immer noch unklar sind. Sie glauben nicht daran, daß es sich um ein Unglück handelte. Die Bökens haben die Bundesrepublik deswegen auf 40.000 Euro Entschädigung verklagt. Die stände ihnen nach dem Soldatenversorgungsgesetz zu, wenn für Jenny während des Dienstes Lebensgefahr bestanden hätte. Davon sind sie überzeugt und machen den damaligen Kommandanten der „Gorch Fock“, Kapitän zur See Norbert Schatz, verantwortlich. Dieser habe trotz Seegangs und der gegebenen Witterungsverhältnisse keinen Sicherungsbefehl erteilt, wodurch die Kadettin ohne Schwimmweste und Sicherungsgurt auf Wache stand.

Anfang August dieses Jahres setzte das Verwaltungsgericht Aachen, vor dem der Fall verhandelt wird, einen Ortstermin auf der „Gorch Fock“ an. Zwei Anwälte, Jennys Eltern sowie drei Richter verschafften sich einen Eindruck an Bord des Segelschiffs. Dabei wurde auch die Höhe der Reling vermessen, um zu klären, ob die Kadettin in einem unachtsamen Moment hätte darüberkippen können oder ob sie zuvor auf sie hätte hinaufsteigen müssen. Daß jemand Jenny von Bord gestoßen hat, gilt als ausgeschlossen. Niemand auf dem Schiff hat einen Hilfeschrei gehört. Ein wissenschaftliches Gutachten, das Jennys Mutter 2011 beim Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Köln in Auftrag gegeben hat und das der JUNGEN FREIHEIT vorliegt, kam zu dem Ergebnis, daß sich die Befunde der Obduktion „mit einem Ertrinkungstod in Einklang bringen lassen können“. Hinweise auf eine andersartige Todesursache hätten sich nicht gefunden. Auch seien keine Verletzungen entdeckt worden, „die einen Todeseintritt beispielsweise aufgrund einer äußeren mechanischen Gewalteinwirkung hätten erklären können“.

Merkwürdig ist allerdings, warum sich an Jennys Füßen zwar Socken, aber keine Schuhe befanden, als ihre Leiche aus dem Wasser gefischt wurde. Die knöchelhohen Schnürstiefel, die die Soldaten auf der „Gorch Fock“ tragen, hätte die Kadettin beim Überlebenskampf im Wasser kaum ausziehen können. Und laut dem Gutachten würden „solche Schuhe alleine durch mehrtägiges Treiben im Wasser sicher nicht von der Leiche gestreift werden können“. Es sind jene Details, die die Bökens an der offiziellen Version des Unfallhergangs zweifeln lassen und weshalb sie die Frage nach der Schuld am Tod ihrer Tochter aufwerfen.

Kapitän Schatz dafür verantwortlich zu machen, greift jedoch zu kurz, findet Hans Freiherr von Stackelberg. Von 1972 bis 1978 selbst Kommandant der „Gorch Fock“, hat er sich intensiv mit dem Fall beschäftigt. Für ihn steht fest: Jenny Böken hatte den „Posten Back“ eigenmächtig verlassen. Gründe hierfür könne es mehrere geben, vermutet von Stackelberg. Jugendlicher Leichtsinn aus Neugier, Lebensmüdigkeit aufgrund seelischer Belastung oder eine Kurzschlußhandlung aus geistiger Überforderung.

Den Vorwurf der unzureichenden Sicherung läßt der Kapitän zur See a.D. nicht gelten. Zu seiner Dienstzeit sei das Tragen von Schwimmwesten lediglich bei „absolut extremen Wetterlagen beziehungsweise schiffsgefährdenden Situationen“ üblich gewesen. Wer das für den geregelten Dienst auf der „Gorch Fock“ fordere, müsse auch Passagieren von Kreuzfahrtschiffen das Tragen von Schwimmwesten an Deck befehlen. „Die Reling auf Kreuzfahrtschiffen ist oft stellenweise bedeutend niedriger als auf der ‘Gorch Fock’ und auf allen Kreuzfahrtschiffen herrscht für jeden freier Zugang zu Alkohol in unbegrenzten Mengen, ganz im Gegensatz zum Bordleben eines Lehrgangsteilnehmers auf der ‘Gorch Fock’“, sagte von Stackelberg der JF.

Hätte Jenny Bökens Tod dennoch verhindert werden können? Möglicherweise ja. Es gibt nach wie vor Zweifel daran (JF 48/11), daß die junge Frau für den Dienst auf der „Gorch Fock“ überhaupt tauglich war. Ihre Gesundheitsakte sowie Beurteilungen, die dieser Zeitung vorliegen, deuten in diese Richtung. Bei korrekter Auslegung der Ergebnisse ihrer militärmedizinischen Untersuchungen wäre Jenny für die Ausbildung zum Sanitätsoffizier ungeeignet gewesen. Sie hätte nie an Bord der „Gorch Fock“ gehen dürfen.

In einer Beurteilung vom August 2008 ist zudem davon die Rede, daß sie starke Probleme habe, „den an sie gestellten Anforderungen und Erwartungen im psychischen sowie physischen Bereich gerecht zu werden“. Die Eignung zum Offizier sei „nicht erkennbar“. Ein Ausschlußkriterium. Trotzdem sticht sie kurz darauf mit der „Gorch Fock“ in See. In ihrem Tagebuch schildert Jenny nach Angaben der Bild-Zeitung, daß sie bereits vor dem ersten Aufentern in die Takelage „nervlich total am Ende“ gewesen sei und „unter extremer Höhenangst“ litt. Psychisch und körperlich offenbar überfordert, kommt es kurz vor ihrem Tod zum Streit mit Kameraden. Der Grund: ihre Müdigkeit und Schlafattacken. 24 Stunden später ist Jenny Böken tot.

Foto: Jenny Böken kurz vor ihrem Tod an Bord der „Gorch Fock“ (2008): „Nervlich total am Ende“

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