© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

Los von London
Besuch in Schottland: Kurz vor dem Referendum zur Unabhängigkeit wittern die Befürworter plötzlich Morgenluft
Hinrich Rohbohm

Locker schlendert er durch die Gänge des schottischen Parlaments. „Heya“, grüßen ihn Sekretärinnen und Abgeordnete, wenn Chris White ihnen begegnet. Die schottische Begrüßungsform für hallo. Der vierzig Jahre alte Politikberater und Europakoordinator der Graswurzelbewegung Scottish Independence Convention (SIC) ist hier bestens vernetzt, kennt die Volksvertreter ebenso gut wie deren Mitarbeiter.

Er geht in eines der Abgeordnetenbüros hinein, steuert eine mit schwarzem Leder überzogene Sitzbank an, die sich in einer merkwürdig geformten Fensterecke befindet. Der Mann, der vom Clan des Rob Roy MacGregor abstammt, nimmt Platz, blickt entspannt aus dem Fenster, hinaus auf die grasgrünen Felshügel des Edinburgher Umlands. Dann beginnt er zu erklären, was es mit dieser seltsam geformten Sitzformation auf sich hat. „Das ist ein Think Pod“, sagt er. Wohlwissend, daß dies einer näheren Erläuterung bedarf. „Die Parlamentarier sollen hier sitzend innehalten, sinnieren, nachdenken, ihre Kreativität zur Entfaltung bringen, um die richtigen Entscheidungen für ihr Land zu fällen“, fährt er schmunzelnd fort.

Was aber sind die richtigen Entscheidungen? Darüber ist die schottische Gesellschaft gespalten. Soll sich Schottland von England lossagen und ein unabhängiger Staat werden? Oder ist das Land mit einem Verbleib im Vereinigten Königreich besser aufgehoben? Am 18. September soll ein Referendum genau darüber eine Entscheidung bringen.

Laut Umfragen der Meinungsforschungsinstitute präferierte die Mehrheit der Bevölkerung lange Zeit die englandtreue „No“-Gruppe des Referendums, die sich euphemistisch als „Better-together“-Anhänger bezeichnen. Nur eine einzige Prognose hatte bisher die Unabhängigkeitsbefürworter vorn gesehen. Und die wurde auch noch ausgerechnet von der SNP in Auftrag gegeben. Doch dann begann die Aufholjagd. „Nach der letzten Umfrage ist es bereits sehr knapp geworden“, erzählt Chris. Bereits 47 Prozent würden nun demnach für Yes votieren, nur noch 52 Prozent für No. Wenige Tage später dann der Paukenschlag: In einer Umfrage der Sunday Times liegen die Sezessionisten mit 50:49 erstmals vorn.

Dabei ist in den Straßen Edinburghs auf den ersten Blick wenig von Wahlkampf zu sehen. Lediglich einige Aufforderungsplakate der Stadt, am 18. September wählen zu gehen, stehen an den Straßenlaternen. „Use, don’t lose your voice“, lautet der Spruch darauf, durch den die Bürger an die Wahlurne gebracht werden sollen.

Stattdessen bringen die Bürger ihre Meinung mit Postern, Fahnen und Aufklebern an ihren Fenstern zum Ausdruck. Wer für die Unabhängigkeit votiert, zeigt dies mit einem blau-weißen „Yes“, die Gegner mit einem roten „No“. Die Yes-Sager sprühen vor Optimismus. „Es ist wie ein Erwachen. Durch das Referendum entwickeln die Leute ein Bewußtsein für ihre nationale Identität“, meint White. In den Kneipen. Den Geschäften. Auf der Straße. In den Familien. Überall werde jetzt über die Unabhängigkeit diskutiert. „Das war früher nicht so. Da gab es viele, die einfach sagten, Politik interessiert sie nicht.“

Die Scottish Independence Convention will in den kommenden Tagen alles in den Wahlkampf werfen, mit Aktivisten von Tür zu Tür ziehen, Hausbesuche gerade in ärmeren Gegenden durchführen. „Wir wollen die Leute erreichen, die zumeist nicht von ihrer Stimme Gebrauch machen.“ In Schottland dürfen übrigens auch Ausländer mit abstimmen. Mehrere zehntausend Deutsche haben beispielsweise ihren Wohnsitz in Schottland. „Wer mindestens sechs Monate in unserem Land lebt, darf mitwählen“, erklärt White. Auch Nicht-EU-Bürger. Die größte Ausländergruppe seien die Spanier, so White. Gut 200.000 von ihnen lebten in dem Land im Nordatlantik. Davon kommen viele aus Katalonien, wo sie wie wir für die Unabhängigkeit kämpfen.“ White will auch sie ansprechen und für die Wahl gewinnen.

Nigel Farage erinnert an Brüsseler Zentralismus

Eine beachtliche Zahl an Wählern erreicht auch Kate. Die 45jährige betreibt einen Laden im Zentrum von Edinburgh, in dem sie Werbematerial der Yes-Bewegung verkauft. Von Tassen, Bildern, T-Shirts, Fahnen, Ansteckbuttons bis hin zu Taschen und Büchern können ihre Kunden alles kaufen, was mit Slogans der Unabhängigkeitsbefürworter bedruckt ist. „Pro Tag kommen rund 100 Besucher. Am Wochenende sind es mehr als doppelt so viele“, sagt die Frau, die einen Laptop mit einem Flachbildfernseher verkabelt hat und so Interessenten auch Wahlwerbespots zeigen kann.

Manche würden auch einfach nur hereinkommen, um sich über Neuigkeiten und Hintergründe zum Referendum zu informieren. So wie etwa ein Mann mit weißgrauem Haar und grauen Schläfen, um die 60 Jahre alt.

„In unserem Ort hat es gerade eine Umfrage gegeben“, weiß er zu berichten. Von 150 Haushalten hätten 77 angegeben, am 18. September mit Ja abstimmen zu wollen. „Ein strahlendes Lächeln huscht über das Gesicht von Kate. „Wirklich?“ fragt sie euphorisch.

Ähnlich begeistert wie Kate zeigt sich auch Laura. Die Dozentin unterrichtet am Edinburgher College und erlebt dort, wie sich besonders die junge Generation aufgrund des Referendums plötzlich für die Politik Schottlands zu interessieren beginnt. „Mittlerweile reden viele ganz offen über die Unabhängigkeit“, hat auch sie festgestellt. In einem Fall allerdings war es umgekehrt. „Da hatte mir ein Student verraten, daß er für die Unabhängigkeit stimmen werde. Das aber dürfe bei ihm zu Hause niemand wissen, weil seine Eltern überzeugte No-Anhänger sind.“

Deren Wahlkampf fällt dezenter aus. Die No-Aufkleber hinter den Fensterscheiben sind kleiner, die Äußerungen ihrer Anhänger verhaltener. Vor allem die Sorge um den Wegfall von Stabilität treibt sie um.

„Als kleine Nation würden wir sehr unsicheren Zeiten entgegengehen“, sagt Allan, ein aus Motherwell stammender Ingenieur, der seit gut fünf Jahren in der schottischen Hauptstadt lebt. „Mit dem Vereinigten Königreich im Verbund haben wir in Europa und in der EU eine starke Position und können besser auf Fehlentwicklungen einwirken. Andernfalls wären wir einer von sehr vielen kleinen Staaten, die kaum etwas durchsetzen können.“

Auch Ian steht den Loslösungsbestrebungen skeptisch gegenüber. „Dann bekommen wir womöglich doch noch den Euro und müssen für die Schulden der südeuropäischen Länder geradestehen“, meint der Ökonomie-Student, der die SNP als zu EU-hörig kritisiert.

Eine Argumentation, die der Position Nigel Farages nahekommt. Der Chef der United Kingdom Independence Party (UKIP) gesteht den Schotten zwar ihr Recht auf Selbstbestimmung zu. Allerdings prophezeit er ihnen, mit ihrer Bindung an die EU gerade jenen Zentralismus zu wählen, von dem sie glauben, sich zu lösen.

Premier David Cameron hatte bereits erklärt, er wolle den Schotten entgegenkommen, ihnen im Falle eines Verzichts auf Unabhängigkeit weitere Selbstbestimmungsrechte in Aussicht stellen. Ein Gespräch mit dem schottischen Ministerpräsidenten, Alex Salmond, war jedoch ergebnislos verlaufen. Schottland sei im Verbund mit Großbritannien „stärker, reicher, fairer und besser geschützt“, argumentiert der britische Regierungschef.

Mark hingegen, ein 31 Jahre alter Informatiker, will dem keinen Glauben schenken. Entspannt sitzt er in einem Café in der Highstreet, der Flaniermeile von Edinburgh. „Mit solchen Aussagen soll doch nur Angst vor der Unabhängigkeit geschürt werden“, ist er überzeugt. Seine Freundin hält dagegen. „Ich glaube schon, daß wir im Verbund mit Großbritannien besser aufgehoben sind“, meint sie. Ein großer, starker Nationalstaat könne dem Bürger mehr Sicherheit bieten. Zudem sei doch die Entscheidung Großbritanniens richtig gewesen, der Währungsunion ferngeblieben zu sein und nicht alle Vorgaben der EU hinzunehmen. Ob eine weitaus weniger Einfluß ausübende, rein schottische Regierung diese Positionen aufrechterhalten könne, daran habe sie ihre Zweifel. „Und am Ende bekommen wir dann doch noch den Euro“, fürchtet sie.

Das allerdings schließt Jim Eadie definitiv aus. Der Abgeordnete des schottischen Parlaments gehört der SNP an, die hier mit 65 von 129 Sitzen über die absolute Mehrheit verfügt. Für seine Partei stellt er gegenüber der JF klar: „Wir wollen das Pfund als Währung behalten.“ Auch eigenes schottisches Geld werde es mit der SNP nicht geben. Schließlich würde eine Währungsumstellung einem Bericht von BBC News zufolge 500 Millionen Pfund kosten.

„In der Nato und in der EU wollen wir allerdings bleiben“, betont der Politiker auch im Hinblick auf die Tatsache, daß die schottische Fischerei stark von Subventionen aus Brüssel profitiert. Die nur wenige Kilometer von Glasgow entfernt befindlichen Trident-Nuklearraketen hingegen müßte England im Falle der Unabhängigkeit abziehen, lautet die Forderung der SNP, die auch Laura teilt.

„Warum werden die nicht in England stationiert?“ fragt sie sich. Und liefert die Antwort gleich mit. „London möchte die Raketen möglichst weit weg von der Hauptstadt haben.“ Ein am Nachbartisch sitzender älterer Herr hat Lauras Argumenten zugehört, kommt zu ihr hinüber. „Ja, im September“, skandiert er und beide beginnen zu lächeln. Es sind Szenen, wie sie dieser Tage häufig in Schottland zu beobachten sind. „Die Engländer können die Raketen gar nicht wegschaffen“, schaltet sich der Mann in das Gespräch ein. „Sie würden keinen Platz in England finden, den die Bevölkerung akzeptiert“, ist er überzeugt.

Neben den Nuklearwaffen sorgt auch eine geplante Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke für Unmut. Vier Milliarden Pfund soll das Projekt kosten, das auch die Schotten mit ihren Steuergeldern finanzieren sollen. „Aber die Strecke wird in Nordengland enden, Schottland hat davon gar nichts. Wären wir unabhängig, könnten wir das Geld für unser Land einsetzen“, sagt Laura. Und was ist, wenn es am 18. September nicht für die Unabhängigkeit reichen sollte? „Der Geist ist bereits aus der Flasche. In der Bevölkerung findet derzeit ein Bewußtseinswandel statt. Ich bin überzeugt, daß wir dann zehn oder fünfzehn Jahre später Erfolg haben werden“, bleibt Chris White auch bei einem solchen Votum Optimist.

 

Schottlands jahrhundertealter Kampf um Selbstbestimmung

843

Kenneth Mac-Alpin vereint die Skoten und Pikten zu einer Nation und wird erster schottischer König.

1290

Nachdem König Alexander III. 1286 durch einen Sturz vom Pferd ums Leben kommt, annektiert der englische König Eduard I. das Land.

1297

Der schottische Freiheitskämpfer William Wallace siegt in der Schlacht von Stirling Bridge über die englischen Truppen.

1314

Unter König Robert I. schlagen die Schotten die Engländer in der Schlacht von Bannockburn erneut.

1320

Erklärung von Arbroath: Schottland erklärt seine Unabhängigkeit, die von England und dem Papst anerkannt wird.

1603

Der schottische König Jakob I. aus dem Hause Stewart wird auch König von England.

1707

Schottland wird mit dem Act of Union – gegen die Mehrheit der Schotten – mit England zum Königreich Großbritannien vereinigt.

1934

Entstehung der Scottish National Party (SNP) durch den Zusammenschluß der Scottish Party und der National Party.

1979

Erstes Referendum über die Autonomie Schottlands. Trotz Mehrheit bewirkt die Abstimmung nichts, da die geforderte Anzahl der nötigen positiven Stimmabgaben nicht erreicht wird.

1997

Zweites Referendum: Mit großer Mehrheit stimmen die Schotten für ein eigenes Parlament mit begrenzten Kompetenzen innerhalb Großbritanniens.

1999

Nach 300 Jahren erste Wahl eines schottischen Parlaments.

2011

Die SNP erlangt mit dem Versprechen, ein Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten, im schottischen Parlament die absolute Mehrheit.

2012

Am 15. Oktober einigen sich Englands Premier David Cameron und Schottlands Ministerpräsident Alex Salmond im Abkommen von Edinburgh auf die Abhaltung eines Referendums.

Foto: Unabhängigkeitskoordinator Chris White (l.) in seinem „Think Pod“; Mini-Wahlkampf in den Straßen Edinburghs: Warten auf das Votum der Schotten am 18. September

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