© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

Archaische Muster und Strukturen
Kino: „Der junge Siyar“ handelt von einem 16jährigen Kurden, der durch einen Mord an seiner Schwester die verletzte Familienehre wiederherstellen will
Christian Dorn

Mit dem Kriegsgeschehen im Irak rückt die verdrängte Frage Kurdistans erneut auf die Agenda. Obgleich die autonome kurdische Provinz des Zweistromlandes als zivilisierte, fortschrittliche Region erscheint, herrschen auch dort, unter den viereinhalb Millionen irakischen Kurden, noch archaische gesellschaftliche Muster. So muß der junge Siyar, nach dem Tod des Vaters das Familienoberhaupt, seine Schwester Nermin (Bahar Özen) dem Sohn des Stammesführers aus dem Nachbardorf versprechen. Letzterer wiederum ist ein Patriarch, dem nicht widersprochen werden kann.

Dabei weiß Siyar (gespielt von Taher Abdullah Taher, der erstmals vor der Kamera stand), daß seine Schwester einen anderen Mann liebt. Da diese nun zusammen mit ihrem Geliebten über Istanbul nach Berlin, schließlich Oslo flieht, ist auch Bruder Siyar zur Reise gezwungen: um durch den Mord an seiner Schwester die verletzte Familienehre wiederherzustellen. In dieser gebietet der älteste Sohn selbstverständlich – das heißt: in absurder Manier – auch über seine eigene Mutter, als diese ihn aufhalten will: „Du bist zu jung dafür. Das ist die Sache eines Mannes.“

Im Gegensatz zu diesem aufgenötigten Selbstbild stehen Siyars Hilflosigkeit und Abhängigkeit von diversen Onkeln, die ihm die Reise ermöglichen, welche dem Zuschauer zugleich eindrucksvolle Bilder vom Schleusermilieu vermitteln. Erschreckend für den abendländischen Betrachter ist dabei das – sich beiläufig entfaltende – Netz archaischer Gemeinschaftsstrukturen, das sich durch sämtliche europäische Metropolen spinnt und auch hierzulande die Fäden zieht, was wiederum die ständig wachsenden islamischen Parallelgesellschaften erklärt. Nicht zufällig ist der „Ehrenmord“ (Namus) auch in Deutschland in der türkisch-kurdischen und arabischen Gesellschaft ein akutes Problem, zu dem freilich keine offiziellen Zahlen existieren.

Die eindrucksvolle Reise, die zugleich einen Reifungsprozeß Siyars einschließt, verknüpft sich mit der Biographie des kurdischen Regisseurs Hisham Zaman. Er war im selben Alter wie seine Hauptfigur, als seine Familie vor Saddams Regime aus der Stadt Kirkuk im Nordirak nach Istanbul floh, um ebenfalls in Norwegen anzukommen. „Der junge Siyar“ ist Zamans erster Langspielfilm, und er ist ihm vollends geglückt, wie auch das über halbe Dutzend Preise beweist, das der Film und seine beiden Hauptdarsteller – neben der Figur „Siyar“ die von Suzan Ilir gespielte „Evin“ – einheimsten. Das tragische Ende des Films, allerdings anders als nach der Ausgangssituation zu erwarten, gibt diesem Spielfilmdebüt die nötige Glaubwürdigkeit für eine Debatte, die längst überfällig scheint.

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