© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

Restauration beim Tanzen
Vor 200 Jahren begann der Wiener Kongreß / Das besiegte Frankreich wurde an der Konstruktion der künftigen europäischen Friedensordnung beteiligt
Hans Fenske

Im Endkampf gegen Napoleon erklärten die verbündeten Mächte, ihr Ziel sei ein Friede, der auf einer weisen Verteilung der Kräfte und einem gerechten Gleichgewicht beruhe, und sagten Frankreich eine schonende Behandlung zu. Entsprechend bekam das inzwischen wieder von den Bourbonen beherrschte Land am 30. Mai 1814 einen sehr milden Frieden zugestanden. Der abschließende Artikel setzte fest, daß innerhalb von zwei Monaten Bevollmächtigte aller am Kriege beteiligten Staaten in Wien zu einem allgemeinen Kongreß zusammentreten sollten, um die Bestimmungen des Friedens zu vervollständigen.

Ab Mitte September fanden sich der Zar, die Könige von Preußen, Bayern, Württemberg und Dänemark und viele andere Fürstlichkeiten sowie die Bevollmächtigten aller europäischen Staaten in Wien ein, zudem Mediatisierte, Interessenvertreter und politische Beobachter. Manche kamen auch aus gesellschaftlichem Interesse. Es war eine große Zusammenkunft, wie sie Europa bis dahin noch nicht gesehen hatte. Der Kaiserhof veranstaltete zahlreiche Empfänge, Bälle, Konzerte, Theateraufführungen und andere Unterhaltungen, auch gab es viele private Einladungen kleineren oder größeren Zuschnitts. Das rege gesellschaftliche Treiben veranlaßte den greisen österreichischen Feldmarschall Fürst Charles Joseph de Ligne zu der spöttischen Bemerkung, der Kongreß tanze, marschiere aber nicht.

Die Hauptbevollmächtigten Englands und Rußlands, Lord Robert Castlereagh und Graf Karl Robert von Nesselrode, verständigten sich bald nach ihrer Ankunft mit dem österreichischen Staatskanzler und Hauptbevollmächtigten Fürst Metternich, daß diese drei Mächte sowie Preußen, Frankreich und Spanien den Kongreß zum 1. Oktober berufen und ihm am Ende alle Beschlüsse zur Billigung vorlegen sollten. Vertreter Österreichs, Preußens, Bayerns, Hannovers und Württembergs sollten als Komitee für deutsche Angelegenheiten über die künftige Gestalt Deutschlands beraten.

Erst Waterloo rückte die Allianz endgültig zusammen

Es gab weder eine förmliche Eröffnung des Kongresses noch in dessen Verlauf eine Versammlung aller Bevollmächtigten. Verhandelt wurde im Kreis der acht Mächte, die den Pariser Frieden unterzeichnet hatten – neben den fünf Großmächten noch Spanien, Portugal und Schweden – ,im Deutschen Komitee, in etlichen für bestimmte Fragen gebildeten Ausschüssen und in vielen Besprechungen im kleinen Kreis. Die Interessen der großen Mächte waren sehr verschieden, so kamen die Beratungen nur langsam voran und waren oft kontrovers. Ende 1814 gab es eine schwere Krise. Im Einvernehmen mit Rußland wollte Preußen ganz Sachsen erwerben, dessen König wegen seiner Treue zu Napoleon seit der Völkerschlacht bei Leipzig kriegsgefangen war. Dafür sollte Rußland das von Napoleon geschaffene und mit Sachsen in Personalunion verbundene Großherzogtum Warschau erhalten.

Österreich, England und Frankreich widersprachen der Aufhebung Sachsens entschieden. Verärgert deutete der preußische Hauptbevollmächtigte Graf Karl August von Hardenberg in der Gestalt, daß Rußland und Preußen es als gleichwertig mit einer Kriegserklärung betrachteten, würde ihrem Verlangen nicht stattgegeben. Kurz danach schlossen die drei anderen Großmächte Anfang Januar 1815 eine Offensivallianz. Hocherfreut schrieb der französische Bevollmächtigte Charles-Maurice de Talleyrand seinem König, die antifranzösische Koalition sei für immer aufgelöst und Frankreich nicht mehr isoliert. Die sächsisch-polnische Frage wurde bald darauf friedlich gelöst, weil Preußen sich mit der nördlichen Hälfte Sachsens begnügte.

Die Verhandlungen wurden beschleunigt, als Napoleon im März von der ihm zugewiesenen Insel Elba zurückkehrte und in Frankreich wieder die Macht ergriff. Die acht Mächte erklärten am 13. März, er habe sich als Feind und Störer der Ruhe der Welt dem öffentlichen Strafgericht preisgegeben. Die Allianz gegen Napoleon wurde erneuert. Ihr unterlag er im Juni bei Waterloo und wurde nach St. Helena im Südatlantik deportiert. Der Frankreich am 20. November auferlegte Zweite Pariser Friede war etwas strenger als der erste, rührte seinen Großmachtstatus aber nicht an.

In der Proklamation von Kalisch hatten Rußland und Preußen den Deutschen im März 1813 die Wiedergeburt eines ehrwürdigen Reiches verheißen. Die am 8. Juni 1815 unterzeichnete Deutsche Bundesakte erfüllte die damit geweckten Erwartungen nicht. Sie faßte die deutschen Staaten zum Zweck der Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit und ihrer Unabhängigkeit und Unverletzlichkeit in einer lockeren Föderation zu­sammen und machte einige Ankündigungen für deren Ausbau.

Freiherr Heinrich Friedrich Karl vom Stein, der als Berater des Zaren in Wien war, schrieb enttäuscht, „von einer so schlechten Verfassung“ lasse sich „nur ein sehr schwacher Einfluß auf das öffentliche Glück Deutschlands erwarten“.

Gemäß der Einigung in der polnisch-sächsischen Frage wurde ein Königreich Polen gebildet und Rußland in Personalunion angeschlossen. Dieses umfaßte allerdings nur den zentralen Teil Polens, ohne die Grenzen von 1772 zu berücksichtigen. Aus Krakau und seinem Umland wurde eine kleine Republik unter dem Schutz der acht Mächte. Neben der Nordhälfte Sachsens erhielt Preußen auch den größten Teil des Rheinlandes. Darauf hatte insbesondere England hingewirkt.

Für den belgisch-niederländischen Raum hatten die Mächte schon 1814 bestimmt, daß er zu einem Königreich der Niederlande unter Wilhelm von Oranien vereinigt werden sollte. England wollte hier einen gegenüber Frankreich widerstandsfähigen Staat. Als Ersatz für seine deutschen Besitzungen erhielt der Oranier Luxemburg und damit einen Gliedstaat des Deutschen Bundes. Schweden bekam für Vorpommern, das an Preußen ging, und für Finnland, das seit 1809 dem Zaren unterstand, Norwegen zugeteilt. Als Ausgleich für den Verlust dieses Landes mußte sich Dänemark mit dem kleinen nordelbischen Herzogtum Lauenburg begnügen.

Die Friedensordnung nach 1815 war ersichtlich fragil

Österreich erwarb in Norditalien ausgedehnte Regionen und bildete daraus das Königreich Lombardo-Venetien. Das Haus Savoyen erhielt seinen früheren Besitz zurück, zudem die Republik Genua. Die kleinen Staaten Mittelitaliens und der Kirchenstaat wurden mit geringen territorialen Veränderungen wiederhergestellt. Im Königreich Neapel kamen die Bourbonen wieder an die Herrschaft. Die Bildung eines italienischen Bundes konnte Metternich nicht durchsetzen. Am 9. Juni unterzeichneten die acht Mächte die Wiener Kongreßakte. Die anderen Staaten traten ihr durch schriftliche Erklärungen bei.

Der Fall des napoleonischen Imperiums machte umfangreiche Aufräumungsarbeiten nötig. Sie wurden in den Wiener Beratungen in angemessener Zeit und mit guten Ergebnissen erledigt. Dafür muß man den in Wien versammelten Staatsmännern Anerkennung aussprechen. Die Lösung mancher Probleme ließ freilich Wünsche offen, so die Behandlung der deutschen Frage, bei der zuviel Rücksicht auf das Souveränitätsbewußtsein einiger Mittelstaaten genommen wurde, namentlich Bayerns.

Beabsichtigt war, die Friedenssicherung zu institutionalisieren. Die auf Anregung des Zaren Alexander I. gegründete Heilige Allianz war eine hochtönende Absichtserklärung. Viel bedeutender als dieser deklaratorische Akt war einige Wochen später, am 20. November 1815, die Erneuerung des Viererbundes, die besonders Castlereagh betrieben hatte. Der Vertrag setzte fest, daß die vier Souveräne oder ihre Minister zu bestimmten Zeiten zusammenkommen sollten, um die Fragen zu besprechen, die im Interesse des europäischen Friedens erörtert werden mußten.

Von 1818 bis 1822 fanden vier Kongresse statt, in Aachen, in Troppau, in Laibach und in Verona. In Aachen wurde Frankreich gleichberechtigt in den Kreis der führenden Mächte aufgenommen. Bald ergaben sich Differenzen in der Frage, wie man sich gegenüber Veränderungen in Regierung und Verwaltung europäischer Staaten verhalten sollte, die auf inneren Aufruhr zurückgingen. In Verona wurde gegen den entschiedenen Protest Englands das Einschreiten gegen die revolutionäre Bewegung in Spanien beschlossen und Frankreich damit beauftragt. Weitere Kongresse fanden nicht mehr statt.

Schon nach wenigen Jahren hatte sich die 1815 vereinbarte institutionalisierte kollektive Sicherung des europäischen Friedens erledigt. Im Sommer 1830 kam es zur ersten Veränderung der in Wien festgelegten territorialen Ordnung. Die südlichen Niederlande erklärten sich als Königreich Belgien für unabhängig, die Großmächte erkannten das im Dezember an und verfügten die ständige Neutralität Belgiens. Der blutigen Niederwerfung des polnischen Aufstandes gegen die russische Herrschaft von Ende 1830 bis zum Herbst 1831 sahen die anderen Großmächte zu.

Im Jahr 1840 führte die Orientpolitik Frankreichs fast zu einem großen Krieg. Das Werk des Wiener Kongresses war ersichtlich fragil. Vollends erschüttert wurde es durch die von Frankreich ausgehende Revolution der Jahre 1848/49. Die deutsche und die italienische Frage wurden neu gestellt. Es dauerte zwei Jahrzehnte, bis sie gelöst waren. Doch das ist ein anderes Kapitel.

Foto. Joseph Zutz, „Der große Wiener Friedenskongreß zur Wiederherstellung von Freiheit und Recht in Europa“, kolorierte Radierung von 1815: Europäische Friedensordnung mit einer weisen Verteilung der Kräfte und einem gerechten Gleichgewicht der Staaten schaffen

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