© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

Aggression ohne Konsequenzen
Der Angriff der Roten Armee auf Polen 1939
Matthias Bäkermann

Auf Grundsätze der Diplomatie nahm man in Moskau keine Rücksicht mehr. Nachdem der polnische Botschafter Wacław Grzybowski um kurz nach Mitternacht des 17. September 1939, einem Sonntag, ins sowjetische Außenkommissariat bestellt wurde, kanzelte ihn Molotows Stellvertreter Potemkin barsch ab: Polens Regierung sei samt Oberbefehlshaber Edward Rydz-Śmigły, Präsident Ignacy Mościcki und Außenminister Jozef Beck „nach Rumänien getürmt“. Das polnische diplomatische Korps in Moskau unterstünde jetzt sowjetischen Behörden. „Und wenn es in Polen keine Regierung mehr gibt, dann gibt es auch keinen Nichtangriffspakt mehr.“

Stunden später überschritt die Rote Armee mit einigen hunderttausend Soldaten die Grenze in Richtung Westen, wo sie nur auf schwache Gegenwehr von etwa 20.000 Soldaten des polnischen Grenzschutzes traf. Über Radio Moskau stellten die Sowjets ihre Aggression als Akt der Fürsorge gegenüber dem „Schicksal der Brüder in der Ukraine und Weißrußland“ dar, die man „nicht ihrem Schicksal überlassen“ wolle.

Wahrhaftig war die militärische Lage zu diesem Zeitpunkt für Polen desolat, die Armeen zwei Wochen nach Kriegsbeginn praktisch besiegt. Letzte noch nicht zerschlagene Divisionen harrten im von der Wehrmacht eingekesselten Warschau aus. Die Deutschen waren sogar schon weit über die im Molotow-Ribbentrop-Pakt vereinbarte Demarkationslinie nach Osten vorgedrungen. Von dort zogen sie sich nun wieder zurück, nachdem es bei Grodno oder Brest-Litowsk zu freundlichen Kontakten und sogar gemeinsamen Paraden mit der Roten Armee gekommen war. Nicht zuletzt diese Episoden widerlegen die DDR-Nachkriegspropaganda. Diese sprach davon, daß die Sowjets Ostpolen nur davor bewahren wollten, daß der deutsche Aggressor dort weiter vordringe.

Im sowjetischen Herrschaftsbereich zwischen Wilna und Lemberg wurde unmittelbar danach damit begonnen, das polnische Bürgertum bzw. auf dem Land die polnische Adelsschicht zu verfolgen. Massenverhaftungen, Deportationen und Erschießungen waren nun die Tagesordnung. Die Zahl der Opfer kann bis heute nur geschätzt werden. Neben mindestens 250.000 polnischen Kriegsgefangenen, von denen etwa 20.000 Offiziere in den Massengräbern von Katyn, Bykownia oder Mydnoje endeten, verschwanden über 100.000 polnische Zivilisten im Reich der Gulags – Abertausende auf Nimmerwiedersehen. Für Polens westliche Bündnispartner England und Frankreich stand trotz alledem eine Option nie ernsthaft auf der Agenda: Stalin den Krieg zu erklären.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen