© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  38/14 / 12. September 2014

Der Flaneur
Barsch fragte sie nach Feuer
Andreas Harlaß

Ihr Gesicht ähnelt dem von Keith Richards, Gitarrist der Rolling Stones, der mit 70 immer noch autoritär über die Bühne runzelt: Falte an Falte, kein Gramm Fett am Körper der Dame. Sie ist flach wie ein Brett. Das ist durch ihr enges Hemd nicht zu übersehen. Über ihren Rippchen-Schultern thronen kurze, eisgraue Haare. Sozialisiert? Vielleicht Ex-Gewerkschaftsfunktionärin, Staatsbürgerkunde-Lehrerin? Geschätztes Alter: etwa 80.

Seit der Wende sei alles beschmiert, Nachbarn erledigten selten den Hausputz.

Sie sitzt in meinem Rücken, in einer „Russenkneipe“ der Dresdner Neustadt. Putin ist an die Wand gemalt, mit Bierglas. Der war als KGB-Mann ganz in der Nähe stationiert, und der Wirt hofft durch dessen Aura auf Umsatz. Die Frau ist allein, bestellt Apfelsaft und textet meine Freundin und mich, kaum daß wir sitzen, mit Stakkatos zu: Daß sie gleich in der Nebenstraße wohne, wo zu DDR-Zeiten niemand reindurfte, weil die Stasi alle Wohnungen belegt hatte, daß ihr Vermieter ein A… sei, weil er sich nie blicken ließe und ihr eine Luxussanierung aufschwatzen wollte, ihr Mann gerade im Garten sei, einen Schlaganfall hatte, daß sie kürzlich ausgeraubt wurde, indem ihr Jugendliche den Rucksack entrissen, sie dabei auf die Knie fiel, die operiert werden mußten, daß seit der Wende alles dreckig und beschmiert sei, Nachbarn den Hausputz selten erledigten, wenn, dann schlampig. Und, und, und …

Sie zieht eine Zigarettenschachtel aus der Tasche, fragt barsch nach Feuer und bläst blauen Rauch gen Himmel. Ich hatte meine höfliche, Aufmerksamkeit zeigende, halbschräge Sitzhaltung inzwischen wieder zurückverwandelt, frontal meiner Freundin zu. Nach ein paar Minuten Rauch sind sie wieder da, die Stakkatos. Sie erklärt sich: „Eigentlich will ich nicht rauchen. Aber Ärzte rauchen ja auch. Es kann also nicht so schädlich sein ...“ Ich bin genervt von dem Palaver, sage höflich, aber bestimmt: „Muß jetzt was Dringendes mit meiner Frau besprechen“ – und schäme mich dafür.

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