© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Pankraz,
der junge Tizian und die Seele als Leib

So etwas gibt es also noch (oder wieder): daß auf einem der großen sommerlichen Musikfestivals Europas mitten zwischen den vielen Konzerten ein Vortrag über das Thema „Die Seele“ geboten wird – und ein zahlreiches Publikum anlockt, das bis zuletzt gebannt zuhört. Beim diesjährigen Lucerne Festival war das der Fall. Der Vortragende war der Schriftsteller Martin Mosebach. Der Beifall für seine Rede war gewaltig.

Mosebach theoretisierte nicht, sondern erzählte, von Sokrates, von Kaiser Hadrian, vom jungen Tizian und dessen berühmtem Gemälde „Himmlische und irdische Liebe“, aber auch von sich selbst, von seinen Erfahrungen mit Sterbenden. „Wer je bei einem Sterbenden gesessen hat und verfolgte, wie die Atemzüge schwächer wurden und wie schließlich ein kaum mehr spürbares Ausatmen der vollständigen Stille voranging, der wird sich nie ausreden lassen, daß er beim Aushauchen einer Seele Zeuge gewesen ist.“

Die Seele „entweicht“. Gehen wir, geht das „Ich“ mit davon? Vom „Ich“ ist der gesunde Menschenverstand gar nicht so leicht zu überzeugen. Die Stammesangehörigen bei den meisten Naturvölkern, an sich Meister des gesunden Menschenverstands, sprechen von sich nicht in der ersten, sondern in der dritten Person. Man kennt das aus den Indianergesprächen bei Karl May, wo die Leute, wenn sie sich selber meinen, etwa sagen: „Kleiner Bär hat gesprochen“ oder „Klares Wasser ist in ihr Zelt gegangen“.

Daß sie selber gesprochen haben oder ins Zelt gegangen sind, wissen sie nicht, sie wissen nur, daß da „etwas“ gesprochen hat und daß dieses Etwas beispielsweise auch in einem kleinen Bären oder in einem klaren Wasser wohnen kann. Engstens damit zusammen hängt der Glaube an die Unsterblichkeit der Seele. Wenn diese Seele nicht mein ist, wenn sie Bär oder Wasser, wenn sie Natur ist, dann hat sie auch nur ephemer mit meinem Körper zu tun, sie „wohnt“ lediglich in ihm, und wenn er stirbt, dann sucht sie sich einen anderen Aufenthalt. Nicht das Sterben ist ihr Teil, sondern die Wanderschaft.

Ob Seele und „Ich“ miteinander identisch sind, wurde laut Mosebach zum ersten Mal von Sokrates in dem berühmten Dialog „Phaidon“ thematisiert, der nach dem Willen seines Verfassers Platon just in der Stunde der Hinrichtung des zum Tode verurteilten Philosophen stattfindet. Man unterhält sich über die Seele. Im Gegensatz zu faktisch allen anderen alten Kulturvölkern war den Griechen das individuelle Seelen-„Heil“, die „Rettung“ der Einzelseele nach dem Tode, ihre „Erlösung“, auch ihre „Reinigung“ im Stile der Inder und Perser bemerkenswert gleichgültig geblieben. Erst mit dem „Phaidon“ änderte sich das im Abendland.

Platon räumte mit der Gleichgültigkeit resolut auf, und zwar schon deshalb, weil er den Dialog so liebte, das erosbeflügelte dialektische Streben nach dem Logos, das Anzünden des Erkenntnisfunkens in jedem einzelnen Dialogpartner. War das nicht Reinigung, Erlösung genug? War das nicht die wahre Überwindung des Todes? Lief da nicht alles auf die vollständige Vereinigung der einzelnen sehnsüchtigen Seele mit dem Wahren, Guten und Schönen hinaus, unter Zurücklassung aller individueller Beschwerden und ungeklärter Antriebe?

Aber dann (der Verurteilte hat den Giftbecher bereits geleert) der „dialektische Umschlag“ des finalen Gesprächs. Mosebach: „Sokrates nennt die Seele unversehens sein Ich. Aber ist diese ganz den ewigen Wahrheiten zugewandte Seele wirklich noch ein Ich, ein Individuum in seiner höchstpersönlichen Ausprägung? Ist nicht alles, was dieses Ich in seiner Ununterscheidbarkeit ausmachte, abgelegt worden? – Das hätte man den Meister gern noch gefragt, aber da begann das Gift schon zu wirken.“

Und weiter im Text der Luzerner Rede. Mosebach konfrontiert den „Phaidon“-Dialog unversehens mit dem bekannten „Seelenliedchen“, das der gute römische Kaiser Hadrian (76–138) auf seinem Sterbebett dichtete: „Ach, Seelchen, armes Seelchen! / So lange meine gute Freundin, / So lange Leibes gute Wirtin, / Wohin wirst Du nun wandern? / Auf welcher dunklen Straße nackt und bleich und blaß und zitternd? / Wirst nimmermehr nun, wie Du pflegtest, / So artig mit mir tändeln!“

Wieder schlägt das Pendel um 180 Grad herum. Aus der strahlenden Prinzessin des Wahren, Guten und Schönen ist ein bleicher, vor Kälte zitternder kleiner Nackedei auf einsamer Straße geworden. Seele, so zeigt sich, ist ohne dazugehöriges Ich gar nicht vorstellbar, Wahrheit, Schönheit und Güte ohne individuelle Charakteristik gibt es gar nicht. Oder anders ausgedrückt: Sie wäre die reinste Hölle der Gleichmacherei, eine Ansammlung von leeren Fratzen.

Glücklicherweise ist damit der Vortrag von Mosebach nicht zu Ende. Vielmehr hat er eine tolle Schlußpointe zu bieten. Er wendet sich dem Gemälde des jungen Tizian aus dem Jahre 1490 zu (heute in der Villa Borghese in Rom) und zeigt in eindrucksvoller Analyse, wie der Künstler dort die Einheit von Leib und Seele zum unsterblichen Bild gerinnen läßt. Die Menschwerdung Gottes in der Gestalt von Jesus Christus erscheint dabei als Bekräftigungs-symbol und unverbrüchliches Zeichen der Hoffnung.

Natürlich sprach hier ein Christ und guter Katholik. Er glaubt an die Verstofflichung des Geistes in der Liturgie und an eine Theologie der Verklärung des Leibes, die nicht vergißt, daß der auferstandene und verklärte Christus seine Wunden einzig behält, weil sie Teil seiner Gottnatur geworden seien. Die vielen Zuhörer des Vortrags in Luzern ließen sich seine Konklusionen aber wohlgefallen, nicht zuletzt deshalb, weil es am Ende noch eine charmante Selbsteingrenzung gab.

Er habe, ließ der Referent da entschuldigend verlauten, den Katholizismus etwas zugespitzt, zum Beispiel als er in Anspielung auf Tizians Bild von „Sakral-Materialismus“ sprach. Gewiß aber sei es kein Fehler, wenn eine Religion die Maler dazu verführt, die Seele zu malen, und zwar gerade durch einen Triumph der verführerischsten Körperlichkeit.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen