© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Eingesperrt in ein glanzloses Dasein
Eine Jugend am Rande des Drahtzauns: Sylke Enders’ Film „Schönefeld Boulevard“
Sebastian Hennig

Der Berliner Flughafen, der nicht zustande kommen will, kommt nun erst einmal in die Kinos. In „Schönefeld Boulevard“ ist er ein Zeichen des Stillstands und der unerfüllten Hoffnungen. In diesem Schönefeld sind Cindy (Julia Jendroßek) und Danny (Daniel Sträßer) aufgewachsen. Das übergewichtige Mädchen und der unruhevolle Junge verleben ihre Jugend am Rande des Drahtzauns. Wenn sie zu Beginn des Films von Sylke Enders an der Absperrung entlangstreifen, wirken sie wie die Insassen eines großen Lagers.

Für die beiden ist die exklusive Welt des eingezäunten Flughafens mit den eiligen und bedeutenden Menschen das Draußen. Sie fühlen sich drumherum eingesperrt in ihr glanzloses Dasein. Eine sprachlose Zuneigung verbindet beide. Daß Danny diese Sprachlosigkeit in einem Wortschwall vulgärer Zudringlichkeiten gegen Cindy verausgabt, trennt die beiden Verlorenen.

Den finsteren Jüngling umgibt eine geheimnisvolle Ausstrahlung. Er bewegt sich mit eigenwilliger Eleganz und lädt die Gefährtin zu Spaziergängen auf den Friedhof ein. Es sieht nur so aus, als würde er wie ein Sperber um das Kaninchen kreisen. In Wirklichkeit ist er ein armer Sperling, der wartet, bis die Schaufel den Boden greift, damit nebenbei ein Würmchen für ihn zu schnappen ist. Seine Herausforderungen sind zu plump vorgebracht, um irgendeine sinnvolle Erwiderung hervorzurufen.

Der schlichten Cindy macht ein blondes Gift von Mitschülerin den Schulbesuch ungenießbar. Danny geht es unterdessen zu Hause kaum anders. Der Junge flieht vor der Stiefmutter Sigrun (Judith Engel) und auch vor sich selbst in das Soldatenleben. Zur Erleichterung von Sigrun meldet er sich zum Einsatz nach Afghanistan.

Das Mädchen steht in anderen Kämpfen. Ein Telefonvideo aus dem Lager mit dem erwartungsvollen jungen Mann im Tarnzeug wird von ihr einfach beendet, weil sie anderen Gedanken nachhängt. Nach einer Beinahe-Kollision des Familienautos mit dem finnischen Ingenieur Leif (Jani Volanen) stellt sie diesen in seinem Hotelzimmer. Mit kindlichem Gemüt und weiblichem Instinkt wirft Cindy sich auf ihre Beute. Leif fragt das Mädchen leicht irritiert: „Was möchten Sie?“ Worauf Cindy mit der unbefangenen Antwort „Cola“ Getränk und Zeit zugleich gewinnt. Sie umgarnt den Mann. In süßlichen Traumsequenzen reitet Prinzessin Cindy durch einen verzauberten Wald dem König Leif entgegen. Daß der Film das Mädchen bereits achtzehn Jahre alt sein läßt, rettet der Geschichte ihre Würde. Denn in der Beschreibung eines Deliktes, dessen sich ein erwachsener Mann an einer Heranwachsenden schuldig macht, wäre „Schönefeld Boulevard“ schnell an ein berechenbares Ende gelangt und hätte jedes Geheimnis eingebüßt.

Der erotische Sieg inspiriert sie schließlich zu einer Höchstleistung während der mündlichen Abiturprüfung zum Thema „Ästhetik“. Der Lehrer meint dazu: „Etwas persönlich, aber sehr gut.“ Man lernt eben nicht nur für das Leben, man erlebt auch für die Schule.

Das Erhabene und das Lächerliche

Dieser Film ist nicht anrührend oder bewegend, und er läßt den Zuschauer nicht betroffen zurück. Dazu ist er zu diskret. Alle Personen sind so gezeichnet, daß ihnen die Zuneigung, ja die Zustimmung zu ihrer Existenz durch die Betrachter sicher ist. Das Leben ist eine ernsthafte Sache, die zuweilen sehr komische Seiten offenbart. Das Lächerliche und das Erhabene erweisen sich oft sogar in einer Situation gleichzeitig. Sylke Enders erzählt das Traurige heiter und gibt nichts der Lächerlichkeit preis. Die Eltern des Mädchens werden von Ramona Kunze-Libnow und Uwe Preuss eindrucksvoll dargestellt.

Unterdessen gewinnt Cindy noch den jungenhaften koreanischen Softwareentwickler Park (Yung Ngo) sozusagen als Hausfreund hinzu. Er ist ihr Tischtennispartner und Kavalier. Bei einem Treffen mit ihm am Bauzaun ist nun bereits nicht mehr klar definiert, wer diesmal vor und wer hinter der Absperrung ist.

Zur rauhen Unbeholfenheit des schutzlosen Kindheitsgespielen Danny markiert die asiatische Höflichkeit von Park den denkbar größten Abstand. Am Umgang mit ihm bestätigt sich Cindy ihren Charme. Die Zutraulichkeit von Leif kann also nicht nur ein hungriger Unfall gewesen sein. In der respektvollen Bestätigung des anderen Mannes wird die Romanze für sie als folgerichtiger Schritt des eigenen Lebenslaufs erlebbar. Park rehabilitiert sie zum Abiturball vor der ganzen Schule und läßt eine weltläufig wirkende Cindy zur begehrten Tanzpartnerin werden.

Diese Umkehr in ihrem Leben ist zugleich eine Katastrophe für Danny. Der erwachenden Männlichkeit wird es unter diesen Umständen nicht so leicht gemacht, sich zum Charakter zu ordnen. Für ihn wird der „Schönefeld Boulevard“ mit Zwischenlandung am Hindukusch zu einer harten Einbahnstraße.

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