© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Imperialer Friedhofsbummel
Der walisische Historiker Norman Davies hat ein imposantes Werk über „verschwundene Reiche“ in Europa vorgelegt
Wolfgang Kaufmann

Historiker, welche über Europa schreiben und dabei mehr als politisch korrekte und erwünschte Gemeinplätze produzieren, sind rar gesät. Norman Davies, der früher in London, Harvard, Stanford und New York lehrte, ist ein derart seltener Vertreter der Geschichtswissenschaft.

Dazu kommt der Umstand, daß er mit seiner höchst gewichtigen Monographie über jene Reiche und Staaten unseres Kontinents, die nach einer mehr oder minder langen und eindrucksvollen Existenz aus der Geschichte und damit auch der kollektiven Erinnerung verschwanden, Neuland betritt: noch nie hat sich ein Historiker die Mühe gemacht, die zwangsläufige Vergänglichkeit von politischen Strukturen beziehungsweise politischer Macht in Europa in den Mittelpunkt einer derart umfassenden Analyse zu stellen.

Aber genau das hielt der Waliser für dringend notwendig, weil heutzutage zunehmend außer acht gerate, wie sehr die Vergangenheit doch durch Mißerfolge und Niedergänge geprägt gewesen sei. Als Grund hierfür nennt Davies mangelndes geschichtliches Bewußtsein: „Die meisten Schulkinder sind nie mit Homer und Vergil in Berührung gekommen (...). Geschichte selbst muß um einen untergeordneten Platz im Curriculum kämpfen, neben offenbar wichtigeren Fächern wie Wirtschaft oder Informatik, Soziologie oder Media Studies. Materialismus und Konsumgesellschaft geben den Ton an. Junge Leute müssen in einer Welt des falschen Optimismus lernen. Anders als ihre Eltern und Großeltern wachsen sie mit sehr wenig Gespür für das gnadenlose Vergehen der Zeit auf.“

Dabei scheinen die Verhältnisse in Großbritannien noch vergleichsweise gut zu sein, wie ein Blick auf den englischen Originaltitel von 2011 zeigt, der da lautet: „Vanished Kingdoms – The History of Half Forgotten Europe“. Für Briten ist also vieles, was Davies schildert, nur „halb vergessen“, während die deutsche Leserschaft nach der sicherlich nicht ganz unzutreffenden Einschätzung des Theiss-Verlages unter einer deutlich stärkeren Amnesie leidet.

Ehrenwerte Absichten alleine machen allerdings noch kein Meisterwerk. Ohne das unübertroffene Talent des Erzählers, selbst die verwickeltesten Sachverhalte mit virtuoser Leichtigkeit zu entflechten, wäre der 900-Seiten-Wälzer wohl alles andere als ein Verkaufsschlager geworden. Aber Davies schafft es eben beispielsweise mühelos, Ordnung in das Chaos der 14 verschiedenen politischen Gebilde zu bringen, welche zwischen 410 und 1795 in verschiedenen Regionen Europas den Namen „Burgund“ getragen haben. Dazu kommt seine stupende Gelehrsamkeit, welche sich nicht nur dann zeigt, wenn er über ein zutiefst „britisches Thema“ wie das mittelalterliche Königreich Strathclyde im heutigen Schottland schreibt.

Davies ist auch ein ausgesprochener Fachmann für Osteuropa und den Balkan, weswegen er sichtlich gern über die verschwundenen Reiche dort berichtet: das historische Litauen, welches schon deshalb Beachtung verdient, weil es einstmals, an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert, ein größeres Territorium einnahm als Polen, Ungarn und Böhmen zusammen; Borussia, das Reich der Prußen, das sich bis zum 13. Jahrhundert ohne jedweden Kontakt zur europäischen Zivilisation entwickelte.

Er porträtiert das ebenfalls erstaunlich ausgedehnte Königreich von Galizien und Lodomerien zwischen Ungarn und Polen (1773–1918); das Königreich Montenegro, dem nur eine Existenz von 1910 bis 1918 beschieden war; und die Eintages-Republik Ruthenien in der Karpatoukraine, die am 15. März 1939 ausgerufen wurde, als Hitler in die Tschechei einmarschierte, und schon am Folgetag infolge einer ungarischen Intervention kollabierte. Natürlich kommt auch die Implosion der Sowjetunion zur Sprache – laut Putin „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“, die Davies maßgeblich zu seinem Buch inspirierte und welche er damit erklärt, daß die KPdSU ihre Macht verloren hatte und die Teilrepubliken keine Weisungen der Zentrale mehr entgegennahmen.

Genauso kenntnisreich werden darüber hinaus die aus der Geschichte verschwundenen süd- und südwesteuropäischen Reiche vorgestellt, wie das Tolosanische Reich der Westgoten (418–507), das auf den Trümmern des Imperium Romanum im heutigen Frankreich und Spanien errichtet wurde, Aragon im Nordosten der Iberischen Halbinsel (1137–1714), Savoyen in Italien (ab 1033) und das Königreich Etrurien (1801–1814), Napoleon Bonapartes erstes monarchistisches Experiment in der Toskana.

Da Davies nicht nur das Verschwinden von Reichen beschreibt, sondern immer auch skizziert, wie es in der betreffenden europäischen Region in der Folgezeit weiterging, hat er Gelegenheit zu allerlei Seitenhieben gegen die kommunistischen Regimes, die sich nach 1945 in Osteuropa etablierten. Und er spart gleichfalls nicht mit Kritik an ebenso mediokren wie größenwahnsinnigen Politikern vom Schlage eines Alexander Lukaschenko oder Recep Erdoğan, die sich in der Nachfolge von Herrschern vergangener Reiche wähnen.

Dahingegen läßt der walisische Historiker viel Sympathie für Preußen und die deutschen Vertriebenen erkennen. So spricht er unter anderem von der „tapferen Vorsitzenden“ des Bundes der Vertriebenen, Erika Steinbach, „die fest entschlossen ist, die vertraute Geschichte der deutschen Schuld durch eine Geschichte der deutschen Leiden in der Kriegszeit zu ergänzen“. Spätestens an dieser Stelle dürfte ein politisch korrekter Leser hierzulande hochgradig verwirrt sein und den Abbruch der Lektüre erwägen – um den Preis des Verzichtes auf einen geistigen Leckerbissen ohne gleichen.

Norman Davies: Verschwundene Reiche. Die Geschichte des vergessenen Europa. Konrad Theiss Verlag, Darmstadt 2013, gebunden, 926 Seiten, Abbildungen, 39,95 Euro

Foto: Auguste Feyen-Perrin, Die Auffindung des Leichnams Karls des Kühnen, Öl auf Leinwand 1888: Mit Karls Schlachtentod 1477 steuerte das Burgunderreich auf sein Ende zu

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