© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  39/14 / 19. September 2014

Weniger Doktrin ist mehr Weisheit
Der Philosoph Michael Hampe rät den Vertretern der eigenen Zunft, universalistische Lehren über Bord zu werfen
Felix Dirsch

Im modernen Philosophiebetrieb ist weiterhin eine Entwicklung zu lebensfernen Ideengebilden an Universitäten und Instituten festzustellen. Wer kommuniziert schon in Habermas’ berühmter idealtypischer Sprechsituation? Manchmal werden jedoch Entwürfe vorgelegt, die auf Gegenkurs gehen. Der in Zürich lehrende Michael Hampe hat sich über diese unbefriedigenden Seiten seiner Disziplin Gedanken gemacht.

Zunächst setzt sich der Verfasser mit den Grundtypen der großen Lehren auseinander, vor allem mit den Systemdenkern, etwa mit den bedeutenden „Idealisten“ bis zu Hegel, deren imponierende Gedankengebäude angesichts der Komplexität der heutigen Welt immer noch unterkomplex sind und schon von daher kaum mehr Faszination entfalten können. Diesen Doktrinären stellt Hampe eine Traditionslinie gegenüber, deren Vertreter mit dem komplizierten Verhältnis von Philosophie, Erziehung und Erzählung hantieren. Die Erfahrung des einzelnen hat demnach Vorrang vor Allgemeinbegriffen, was freilich eher trivial wirkt. Sokrates, dessen Aktivitäten auf Desillusionierung abzielten, ist der berühmteste Repräsentant dieser Auffassung. Am Ende der Fahnenstange findet man Autoren wie Paul Feyerabend und Richard Rorty. Letzterer hat Einzelnes und Zufälliges unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts auf respektable, wenn auch mitunter allzu banale Weise aufgewertet.

Wechsel menschlicher Lebenserfahrungen abbilden

Einige unter den Nichtdoktrinären erörtert Hampe ausführlich, darunter den Pragmatisten John Dewey sowie den Schriftsteller und Nobelpreisträger John M. Coetzee. Dewey legt ein genuines Modell der Wechselbeziehung von Demokratie, Erziehung und individueller Einsichtsfähigkeit vor. Der Staatsbürger ist in dieser Konzeption mehr als nur Ressource für familiäre Reproduktion und Wirtschaft. Er wird zum Selbstdenken erzogen und angeleitet, allen Narrationen, die Menschen lenken wollen, zu mißtrauen. Hampe blickt mit Sympathie auf Deweys Betonung der menschlichen Autonomie, die hilft, das Dasein ohne Rekurs auf Transzendentes zu meistern.

Coetzee ist ein weiterer Gewährsmann. Er steht als Beispiel für die Erklärung von Behauptungen. Bei Coetzee werden Prozesse der Selbsterkenntnis in Form fiktionaler Texte deutlich. Dieses Ziel deutet Hampe anhand eines Coetzee-Vortrages über Tierethik. Erörtert wird auch die Problematik, ob Literatur den Zustand der Menschheit heben könne, wie Medizin den Gesundheitszustand vieler Menschen verbessert und den Tod häufig hinausschiebt – eine Frage, die in ihrer Allgemeinheit kaum zu beantworten ist. Immerhin schreibt Hampe der fiktionalen Literatur eine Kompetenz zu, die ihr von seiten philosophischer Autoren eher selten zugebilligt wird. Erst recht gilt dieser Befund für manche streng naturwissenschaftlich ausgerichtete Denker wie Sigmund Freud, der in der Beschäftigung mit erdichteten Texten Anzeichen von infantiler Regression erblickt.

Hampe läßt in seinen gelegentlich nicht einfach nachzuvollziehenden Gedankengängen keine Zweifel, welchen tieferen Sinn philosophisches Denken haben sollte: Es müßte im besten Fall den Wechsel menschlicher Lebenserfahrungen darstellen.

Am Ende der inspirierenden Lektüre angekommen, beschleicht den Leser ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits bejaht er die Intention des Verfassers, Philosophie in alt-neuer Weise als Ort des Nachdenkens über menschliches Leben zu fundieren – ein Vorgehen, das Absichten antiker Philosophenschulen (und nicht nur der Sokratik) in zeitgemäßer Weise fruchtbar machen will. Andererseits jedoch holt der erklärte Liebhaber der Kontingenz selbst ein universales Programm heraus, den Antidoktrinarismus. Dieser ist zu abstrakt, um den Rezipienten das zu geben, was sie nicht selten suchen: eine Hilfe, die zum Gelingen des eigenen Lebens beitragen soll. Hier kann zum Beispiel der Lebenskunstphilosoph Wilhelm Schmid den Weisheitshungrigen mehr geben, wenn er, wie in einer frühen Schrift Glück und in der neuesten Publikation Gelassenheit nicht nur postuliert, sondern auch Wege aufzeigt, beides zu erreichen. In seinem Fall kommt die Philosophie allemal lebensnah daher – und das nicht zuletzt deshalb, weil sichtbar wird, was Konkretion bedeutet.

Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, gebunden, 455 Seiten, 24,95 Euro

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