© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/14 / 26. September 2014

Grüner Prügelknabe
Asylpolitik: Ministerpräsident Winfried Kretschmann gerät zwischen die Fronten
Lion Edler

Der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) weiß spätestens seit vergangenen Freitag, mit welchem heftigen Gegenwind GrünenP+olitiker zu rechnen haben, die in der Asylpolitik allzu pragmatisch denken. Kretschmann hatte im Bundesrat einer Asylrechtsreform zugestimmt, wonach die Westbalkanstaaten als „sichere Herkunftsstaaten“ gelten. Der Ministerpräsident hatte mit den Stimmen seines Bundeslandes für die erforderliche Mehrheit von 35 Stimmen gesorgt.

Damit zog er den Unmut vieler seiner Parteifreunde auf sich, denn diese beharren darauf, daß die betreffenden Länder gerade wegen der Diskriminierung der dort lebenden Roma nicht als sicher gelten könnten. Kretschmann verteidigt sich mit dem Hinweis auf „substantielle Verbesserungen“ gegen innerparteiliche Kritik. Denn gleichzeitig soll die Residenzpflicht nach drei Monaten Aufenthalt entfallen, so daß sich die Asylbewerber dann nicht mehr in dem Bundesland aufhalten müssen, dem sie zugeteilt wurden. Die Asylbewerber sollen künftig zudem Geld statt Sachleistungen erhalten. Außerdem können Asylsuchende künftig schon nach drei anstatt nach neun Monaten in Deutschland eine Arbeit annehmen. Die Vorrangprüfung, wonach ein Asylsuchender den Arbeitsplatz nur dann bekommt, wenn kein Inländer ihn annimmt, soll nach 15 Monaten entfallen.

Vielen Grünen reichen diese Zugeständnisse jedoch nicht. Der innenpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, Volker Beck, warf Kretschmann vor, „das Menschenrecht auf Asyl für einen Appel und ein Ei verdealt“ zu haben. Auf Becks Facebook-Seite kocht die grüne Parteiseele noch heftiger: „Danke an kretsche, mir soll von den Grün-Faschisten nie wieder jemand was über Menschenrechte erzählen!!“ schreibt ein Kommentator. „Die Grünen haben jede Glaubwürdigkeit verspielt und die Flüchtlinge im Stich gelassen“, findet ein anderer. Ein Kritiker fordert gar den Parteiausschluß von Kretschmann, weil dieser mit seiner Asylpolitik angeblich gegen Grundsätze der Partei verstoßen habe. Der nordrhein-westfälische Landesverband der Grünen Jugend zeigte sich „entsetzt über Kretschmanns Abwendung vom Grundrecht auf Asyl“. Kretschmann biete „Nährboden für rassistische Hetze gegen eine ohnehin schon diskriminierte Gruppe“, erklärte ihre Sprecherin Lisa-Marie Friede.

Der Zorn, der sich gegen Kretschmann richtet, hat eine Vorgeschichte. Schon vor zwei Jahren bezeichnete es die Lobby-Organisation Pro Asyl als „Stimmungsmache“ und „absurd“, daß der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) die Zahlungen an Asylbewerber vom Balkan kürzen wollte. Es würde „der Eindruck vermittelt“, als ginge es um eine „riesige Bedrohung“, ließ sich der Pro-Asyl-Geschäftsführer vernehmen. Doch zwei Jahre später hat sich die Lage in vielen Städten und Kommunen dramatisch zugespitzt.

Städtetag ruft um Hilfe

Vor der Abstimmung im Bundesrat sprach der Präsident des Deutschen Städtetages, der Nürnberger Oberbürgermeister Ulrich Maly (SPD), von „dramatisch gestiegenen Asylbewerberzahlen“, die die Städte „vor erhebliche praktische Probleme“ stellten. Allein in den ersten sieben Monaten des Jahres beantragten fast 100.000 Personen in Deutschland Asyl, was einer Steigerung von 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht. Und: Seit dem Wegfall der Visumspflicht seien auch die Asylbegehren aus den Westbalkanländern „sprunghaft gestiegen“; als Flüchtlinge anerkannt würden davon allerdings nur 0,3 Prozent. Wegen der Asylbegehren aus dem Westbalkan verringerten sich bei Bund, Ländern und Kommunen die Kapazitäten „für viele tatsächlich schutzbedürftige Asylsuchende“.

Damit hatte der Städtetag verklausuliert ausgesprochen, was von zahlreichen Politikern bislang negiert und als „Rechtspopulismus“ diskreditiert wurde: Ein naiver Umgang mit Asylbewerbern, die faktisch gar keine Flüchtlinge sind, schadet denjenigen, die tatsächlich schutzbedürftig sind. Der Städtetag appellierte daher an den Bundesrat, die Westbalkanstaaten Serbien, Mazedonien, Bosnien und Herzegowina „zu sicheren Herkunftsstaaten zu erklären“, so daß Asylbewerber in diesen Ländern und eben nicht in Deutschland unterkommen müßten. Daß der Bund indessen tief in die Tasche greift und 300 zusätzliche Arbeitsstellen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schaffen will, wird vom Deutschen Städtetag als „guter Anfang“ bezeichnet, der die Asylverfahren verkürzen könnte.

Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) forderte derweil, Flüchtlingskontingente auf alle EU-Staaten zu verteilen. Es entspräche „nicht der erforderlichen gesamteuropäischen Solidarität“, daß „vier, fünf Länder die größte Anzahl der Flüchtlinge aufnehmen“, sagte de Maizière dem Spiegel. Wenn alle Länder „die verabredeten Regeln einhalten“, könnten nach Ansicht des Ministers Länder wie Italien, das besonders vom Flüchtlingsstrom betroffen ist, entlastet werden. Voraussetzung sei allerdings, daß beispielsweise in Italien „zügig diejenigen Personen erfaßt werden, die Anspruch auf internationalen Schutz erheben können, und die Personen, die hierfür nicht in Frage kommen, rasch in ihre Herkunfts- oder Ausgangsländer zurückgeführt werden“.

Auch der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD) forderte ein „gesamteuropäisches Konzept“, das humanitäre Lösungen für den stetig wachsenden Flüchtlingsstrom aufzeige.

Foto: Winfried Kretschmann vor der Abstimmung im Bundesrat: „Danke an Kretsche“

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