© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/14 / 26. September 2014

Die Türkei spielt va banque
IS-Terror: Ankara und Teheran spielen im Kampf gegen die Radikalsunniten eine Sonderrolle
Marc Zöllner

Erneut flogen Anfang der Woche Steine in Etmanik. Hunderte Jugendliche zumeist kurdischer Herkunft attackierten Polizisten und Militärangehörige am kleinen, vom Staub der Wüste umgebenen Grenzübergang zwischen der Türkei und Syrien nahe des syrisch-kurdischen Ortes Kobanê. Diese setzten sich zur Wehr: Mit Wasserwerfern gingen sie vor und feuerten Tränengasgeschosse in die Menge. Die Bilanz des Sonntags schlug sich blutig in rund einhundert Verletzten nieder.

Die türkische Armee sieht sich mittlerweile am Ende ihrer Geduld. Sechs von acht Grenzposten ließ sie schließen. Hinter dem dichten Wall aus Stacheldraht und hölzernen Barrikaden fahren Panzer auf. Autos und Hilfsgüter der aus dem Norden angereisten Protestler werden beschlagnahmt. Eine spontan errichtete Zeltstadt, aus Solidarität mit den kurdischen Flüchtlingen organisiert, wurde über Nacht geräumt.

Teheran sucht seinen Einfluß zu erweitern

Zehntausende Vertriebene harren seitdem in der heißen Sonne ihres ungewissen Schicksals. Ihre Heimatstadt Kobanê mußten sie verlassen, als sich die radikalsunnitische Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) dieser in einer blitzkriegartigen Offensive näherte und dabei, für deren Einwohner völlig überraschend, rund sechzig Dörfer überrannte. Gerüchte über Massaker sowie Massenerschießungen drangen seitdem aus den umliegenden Gebieten in die bis vor Beginn des syrischen Bürgerkriegs kaum 50.000 Einwohner zählende Kleinstadt vor.

Mittlerweile sollen in Kobanê über eine halbe Million Menschen untergekommen sein; kurdische und arabische Flüchtlinge aus dem Norden Syriens, die sich zwischen den IS-Truppen und der türkischen Armee eingekesselt wiederfinden. Lebensmittel und Medikamente werden in der Stadt täglich knapper.

Der einzige Fluchtweg in die Türkei wird jedoch versperrt. Ein Umstand, der bei vielen Kurden als weiterer Hinweis auf die heimliche Kooperation des Bosporusstaates mit den Milizen des radikalislamischen Kalifats gedeutet wird. „Die Unterstützung des IS durch die Türkei und deren Beziehungen untereinander sind gut dokumentiert“, verkündete ein Brandbrief der „Union der Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK). „Jede vom IS auf Nordkurdistan abgefeuerte Kugel wurde in Wahrheit vom türkischen Staat abgefeuert.“

„Wir rufen unser Volk und unsere Freunde dazu auf, sich dem Widerstand anzuschließen“, heißt es im selben Schreiben, welches vom PKK-eigenen Nachrichtendienst Firat publiziert wurde. „Dem Widerstand, der die Freiheit und die Ehre des kurdischen Volkes verteidigen wird, soll keine Grenze mehr gesetzt werden.“

Die Grenze, das ist vor allem jene von Etmanik. Dort versammelten sich zum Montag mittlerweile mehr als tausend Freiwillige, um für kurdische Volksbefreiungsmilizen wie die Hêzên Parastina Gel (HPG) zur Verteidigung Kobanês in die Schlacht zu ziehen. Motiviert werden sie von den kürzlich errungenen Erfolgen der HPG im irakischen Singal, wo der IS vormals traurige Schlagzeilen mit der Vertreibung der Jesiden generierte. Seit Sonntag belagern kurdische Milizionäre die Region.

Die Angst, daß sich die kurdischen Milizen, die oftmals auch separatistische Ziele verfolgen, nach ihrem Sieg gegen den Islamischen Staat erneut gegen die Türkei wenden könnten, ist in türkischen Regierungskreisen durchaus präsent. Eine direkte Konfrontation mit dem IS fürchtet Ankara in Kleinasien jedoch nicht: Im Gegensatz zu den Armeen des Irak und Syriens besitzt jene der Türkei ein hohes Maß an Schlagkraft sowie effizienter Struktur. Den IS könnte die Türkei binnen weniger Tage militärisch in die Knie zwingen. Das allerdings würde lediglich den kurdischen Separatisten nützen, deren Kräfte bislang durch die Islamisten gebunden sind.

Wie die Türkei, so besitzt auch Tehe-ran ein ambivalentes Verhältnis zu den Vorgängen im irakischen Nachbarstaat. Zwar betrachtet der Iran die Kämpfe zwischen den irakischen Streitkräften und dem Kalifat als innerstaatliche Angelegenheit des Zweistromlands. Mit der Entsendung Kassim Soleimanis, des obersten Generals der iranischen Eliteeinheit al-Quds, als Berater nach Bagdad baut Teheran jedoch verstärkt auf die militärische Unterstützung seines weitreichenden Einflußgebiets im schiitischen Süden des Irak, welcher nicht zuletzt dank des Iran als Protektor von den Aktivitäten des IS weitgehend verschont blieb.

Auf seine Erfahrungen von Basra bis Bagdad aufbauend, möchte sich Teheran, trotz oder gerade wegen der von Bahrain, Katar, Saudi-Arabien, und den Vereinigten Arabischen Emiraten unterstützten US-Luftschläge gegen IS, als Schutzmacht der irakischen Kurden profilieren. Nicht ganz uneigennützig: Auch den Iran nennen derzeit rund fünf Millionen Angehörige dieses Volkes ihre Heimat. Tausende von ihnen sind organisiert in der „Partei für ein Freies Leben in Kurdistan“ (PJAK), welche bis 2011 militant für die Unabhängigkeit ihrer Heimat stritt. Mit umfangreichen Waffenlieferungen versucht der Iran derzeit, den Separatisten die Sympathien abzugraben.

„Als wir nach Waffen gefragt haben“, gestand Masud Barzani, der Präsident der irakischen Kurdengebiete Ende August freimütig, „war der Iran der erste Staat, welcher uns diese samt Munition lieferte.“ Doch nicht nur die offene Hofierung durch hochrangige kurdische Vertreter, auch daß sich sogar US-Außenminister John Kerry bereit erklärte, dem Iran in Fragen zum Atomstreit Zugeständnisse einzuräumen, würde dieser im Gegenzug seine Aktivitäten im Irak und insbesondere im Kampf gegen den IS ausweiten, dürfte der Türkei keineswegs gefallen. Die Verweigerung der helfenden Hand den Kurden gegenüber könnte dem starken Mann am Bosporus die erträumte Vormachtstellung im Nahen Osten kosten.

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