© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/14 / 26. September 2014

Deutschland, deine Denker
Wo sind sie geblieben? Warum die Philosophie heute ihre grundlegende Rolle eingebüßt hat
Harald Seubert

Deutschland ist in besonderer Weise Land der Philosophie. Dies beginnt bei den großen Mystikern Meister Eckhart, Seuse und später Jakob Böhme. Es setzt sich über Leibniz, Kant und den deutschen Idealismus mit Fichte, Schelling und Hegel, aber auch Schleiermacher und die fulminanten Denker der Frühromantik fort; sodann als die Universitätsphilosophie stagnierte von den Rändern her: in Schopenhauers Pessimismus und seiner Aufnahme und Überwindung durch Friedrich Nietzsche.

Dem Psychologismus und Historismus setzten Frege und Husserl am Beginn des 20. Jahrhunderts ihr Antidotum entgegen. Heideggers Seinsfrage wies, als philosophische Revolution wahrgenommen, drei Jahrtausende in die Schranken. Noch weit in die Zeit nach 1945 reicht eine weltweit beachtete deutsche Philosophenelite, deren Lehr- und Wirkungsorte oftmals zu internationalen Pilgerstätten wurden: Gadamer in Heidelberg, Joachim Ritter in Münster, daneben die Frankfurter Schule der zurückgekehrten Emigranten Horkheimer und Adorno.

Selbst in meiner eigenen Studienzeit vor 25 Jahren fokussierte sich die philosophische Kultur auf bedeutende Leuchttürme, die man klar namhaft machen konnte: Hermann Lübbe, Odo Marquard, Dieter Henrich oder Jürgen Habermas. Die Studienorte unterschieden sich erkennbar nach den Meistern und ihren Schwerpunkten: Ein Wechsel von München nach Frankfurt und umgekehrt bedeutete etwas.

Solche Philosophen erreichten nicht nur die akademische Öffentlichkeit. Durch hochkarätige Buchreihen wie Suhrkamps Theorie-Edition oder zuvor Ernesto Grassis Rowohlt-Enzyklopädie zogen sie eine weite Aufmerksamkeit auf sich.

Netzwerke bestimmen über Lehrstuhlvergaben

Es fragt sich, was davon geblieben ist. Die Philosophischen Seminare oder Institute sind sehr viel gleichförmiger geworden – und langweiliger. Die angelsächsisch geprägte analytische Philosophie dominiert weitgehend; daneben kursieren, gesprächslos, bestimmte Kultur- und Modetheorien.

Was besonders problematisch ist: Man meint wohl erstmals in ihrer tausendjährigen Geschichte zu wissen, was Philosophie in ihren Disziplinen ist. „Metaphysik“, „Philosophie des Geistes“, „Metaethik“ oder „Angewandte Ethik“ sind klar definiert wie spezifische Zweige der Biologie oder Chemie. Lehrstühle werden nach immer engerem Zuschnitt ausgeschrieben. Es gibt Gruppierungen und Netzwerke, die weitgehend über Lehrstuhlvergaben und Drittmittelzuweisungen bestimmen.

Die Philosophie, wie sie in der breiteren, auch medialen Öffentlichkeit vorkommt, hat damit kaum etwas zu tun: Peter Sloterdijk ist zwar Hochschullehrer und sogar langjähriger Rektor der Akademie in Karlsruhe. Doch zur Universitätsphilosophie besteht seit Anfang seiner Produktivität ein wechselseitiges Distanzverhältnis. Und manche medialen Philosophendarsteller schwimmen auf der Woge der Telegenität und der Ratgeberliteratur, ohne mit der Philosophia perennis irgend etwas zu tun zu haben. Es scheint also vordergründig durchaus berechtigt zu sein, wenn Vittorio Hösle in seiner knappen Gesamtdarstellung deutscher Philosophie (2013) einen Bogen von Meister Eckhart bis Habermas schlägt – und das Ganze letztlich in ein Requiem auslaufen läßt.

Das Gespräch der Lebenden und der Toten

Welche Ursachen hat diese Entwicklung? Philosophie hat, zum ersten, in den vergangenen Jahren den Anspruch und damit auch die Fähigkeit verloren, „Erste Wissenschaft“ zu sein. Nach Platon darf sie nicht im Bereich des Hypothetischen bleiben; sie muß grundlegender fragen – nach dem Anfang und dem Ganzen, buchstäblich nach Gott und der Welt. Heute hängt sie sich dagegen arbiträr an „Leitwissenschaften“ wie Hirnforschung oder Biologie und versucht, ein wenig Terrain zu behalten und von den anderwärts vergebenen Fleischtöpfen zu profitieren.

Zum zweiten hat sie den Zusammenhang mit ihrer Geschichte, das große Gespräch der Lebenden und der Toten, mutwillig preisgegeben. Heutige Lehrstuhlinhaber einer bestimmten Ausrichtung geben gerne Sottisen der Art von sich, wie: man könne die Philosophie des 20. Jahrhunderts vergessen, wenn man 20 Seiten Quine gelesen habe. Daran hält sich ein Mainstreamstudent gerne und mit fatalen Folgen. Die Spaltung in nichtphilosophische Ideengeschichte einerseits, sogenannte Systematische Philosophie, die ihre Systematik nicht mehr in Frage stellt, andererseits verhindert, daß man die eigenen Black Boxes erkennt und die Denkgewohnheiten der eigenen Zeit in Frage stellt. Wer dies tut, wird schwerlich eine glatte Karriere machen. Ihm wird das Epitheton des „Außenseiters“ angeheftet werden; als wären Stallgeruch und Herdenmentalität vorzügliche philosophische Eigenschaften.

Zum dritten ist Philosophie mehr als jede andere Disziplin auf Freiheit angewiesen – in der Polis und in ihrer eigentümlichen Institution: der Universität. Die Kontroll- und Verengungsmechanismen der Bologna-Reform haben jene Versenkung, jenes freie Lesen und Denken zerstört, aus dem die „Erste Wissenschaft“ ihre Kraft zog. Die von Humboldt bis Derrida beschworene „unendliche Universität“ ist nur noch ein fernes Gegenbild.

Weiter ist Philosophie auf eine komplexe Verbindung von Fähigkeiten angewiesen, die einzufordern man sich aufgrund panischer Elitefeindschaft scheute: Der ideale Philosoph sollte eine hohe formale Intelligenz mit umfassender Bildung und Sprachkraft verbinden. Er sollte seine Geistesvirtuosität aber zugleich mit einem hohen Maß von Wahrheitsliebe und Ethik einsetzen. Sonst wird er zum Sophisten.

Schließlich ist der Philosophie weitgehend der Bezug zu ihrem Weltbegriff (Kant) verlorengegangen: Im Sinn dieses Weltbegriffs fragt sie danach, was jedermann notwendig interessiert. Wenn man sich im Sinne des Schulbegriffs auf eine immer engere Rationalität verengt, überläßt man umgekehrt die Welt ihrer Irrationalität; metaethische Begründungen wirken angesichts einer aus den Fugen geratenden Welt geradezu obszön.

Man kann akzeptieren, daß die Generation, die nach 1945 das Gesicht der deutschen Philosophie prägte, den „vornehmen Ton“ verbannt wissen wollte. Doch philosophisches Denken, gerade in jenen deutschen Traditionen, ist mehr als Common sense.

Gibt es Heilmittel – oder bleibt es beim Requiem? Philosophische Lehrstühle wurden in den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten kahlschlagartig reduziert oder umgewidmet. Die Berufsaussichten auch qualifizierter Nachwuchswissenschaftler sind miserabel. Dies rührt aus dem Irrelevanzverdacht, mit dem die Disziplin beargwöhnt wird – nicht ganz ohne eigene Schuld. Klar ist auch, daß Philosophie ein Massenfach weder sein kann noch sein sollte. Schon die Alten wußten, daß mit der Protreptik, der Werbung für die Philosophie, die Warnung an alle Ungeeigneten verbunden sein muß.

Erneuerung der Idee eines Studium generale

Gleichwohl hat eine Philosophie, die von ihrer grundlegenden Rolle überzeugt ist und dies auch überzeugend zu vermitteln weiß, in einer sich rapide ändernden, von den Folgelasten neuer Technologien überschwemmten und zugleich an allen Orten brennende Welt entscheidende Aufgaben: Zu nennen ist nur die Unterscheidung zwischen Information und Wissen, sodann die Frage nach der Hegung von Macht im Recht durch eine Politische Philosophie, die dem 21. Jahrhundert gemäß sein kann; weiterhin die Frage nach unserem Selbst- und Personsein, wo die Seele nach außen verlegt und im „weltweiten Netz“ lesbar gemacht wird.

Philosophie kann dazu aber nur etwas Essentielles beitragen, wenn sie aus ihrem eigenen Jahrtausendgespräch und ihrer grundlegenden und rücksichtslosen Wahrheitssuche die Gegenwart betrachtet. Dabei sollten sich Philosophen nicht scheuen, sich ganz zu jener Zweckfreiheit zu bekennen, die ihre raison d’être ist. Das technokratisch-bürokratische Design von institutionalisierter Forschung von In- und Outputs ist für kein Fach katastrophaler als für jene Disziplin, die zwischen Wissenschaft und Weisheit ihren Ort hat. Wenn die Universität wieder Universität sein will, bedarf es der Erneuerung der Idee eines Studium generale und des Orientierungswissens: In dessen Mitte hätte die Philosophie ihren Ort; aber eben weit darüber hinaus, wo das, was jedermann notwendig interessiert, verhandelt wird.

Ob dies gelingen kann? Dürftige Zeiten der deutschen akademischen Philosophie gab es schon immer. Nietzsches oder Heideggers Aufstieg waren aus dem Zustand der Universitätsphilosophie ihrer Zeit nicht zu erwarten. Man muß indes bedenken, was der alte Platon schon wußte: daß echte Philosophen selten sind und daß es einen Staat und eine Stadt ehrt, wenn sie sich darin entfalten und gehört werden.

 

Prof. Dr. Harald Seubert, Jahrgang 1967, bekleidet seit 2012 die Professur für Philosophie und Religionswissenschaft an der STH Basel. Daneben lehrt er an der Hochschule für Politik in München. Anfang 2015 erscheint sein Buch zum Thema: „Was Philosophie ist und sein kann“ im Schwabe-Verlag Basel.

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