© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  40/14 / 26. September 2014

Das Blutland an der Maas
Olaf Jessen kann das Phänomen der verlustreichen Materialschlacht bei Verdun 1916 nicht entschlüsseln
Horst Rohde

Die Erinnerungen an den Ausbruch und Verlauf des Ersten Weltkrieges vor hundert Jahren haben schon jetzt eine beachtliche Fülle von Veröffentlichungen hervorgebracht. Sie alle haben aufgrund der großen Distanz zu den damaligen Ereignissen die günstige Voraussetzung, um mit Hilfe fast aller inzwischen verfügbaren sowie unter Auswertung möglichst vieler schon bisher erfolgter Darstellungen zu einer sehr sachgerechten und abgewogenen Darstellung der jeweils gewählten Thematik zu gelangen.

Dabei muß das Ergebnis durchaus nicht immer konform sein, weil Bewertungen historischer Ereignisse natürlich auch persönlichkeitsbezogen differenziert ausfallen. Auf jeden Fall muß aber ein ernsthaftes Bemühen zu erkennen sein, daß die vorhandenen Quellen herangezogen und vollständig sowie ausreichend bewertet werden. Und diese Vorgehensweise steht dann unter einer besonderen Verpflichtung, wenn – wie jetzt im Falle eines hundertjährigen Rückblickes auf den Ersten Weltkrieg – eine bedeutende Zäsur erreicht werden soll: Die zu Recht als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ ausgemachte Völkerschlacht bietet zwar in ihrer Gesamtheit genügend Anlaß, um sich im vorgenannten Sinn immer wieder grundlegend mit ihr auseinanderzusetzen. Doch es existiert auch ein einzigartiges Phänomen, das es erlaubt, das Gesamtgeschehen der Jahre 1914 bis 1918 in einem Namen zusammenzufassen; und dieser heißt: Verdun!

Nicht umsonst hat daher dieses Thema bereits in der Vergangenheit eine kaum noch überschaubare Fülle von Darstellungen erfahren. So verwundert es auch nicht, daß unter der Flut bisher schon erschienener Arbeiten zum Thema „Erster Weltkrieg“ sich ebenfalls bereits wieder eine Monographie befindet, die sich mit Ereignissen um die berühmte Festung an der Maas beschäftigt. Allerdings erweckt schon ihr Titel Zweifel, ob dieses neue Buch seinem so anspruchsvollen Ziel wirklich gerecht werden kann, hat es doch den Anschein, als ob hier vor allem mit dem Blick auf das Jahr 2016 rechtzeitig „Duftmarken“ gesetzt werden sollen.

Das Hauptproblem der Untersuchung des Historikers Olaf Jessen liegt jedoch nicht nur in der Formulierung ihres Titels, sondern vor allem auch darin, daß der Autor dem auch inhaltlich voll Rechnung trägt: Sowohl der Begriff „Urschlacht des Jahrhunderts“ ist nämlich ebensowenig haltbar wie die Aussage, daß eben dieses Kampfgeschehen nur in wenigen Monaten des Jahres 1916 stattgefunden habe.

Die Bezeichnung „Urschlacht“ scheint im Sinne der schon erwähnten Publicity-Bemühungen für die Arbeit von Jessen wohl von dem berühmten Terminus der „Ur-Katastrophe des 20. Jahrhundert“ abgeleitet worden zu sein. Trotz aller gegenteiligen Begründungsversuche des Autors ist sie – wie gesagt – nicht zutreffend. Genau gesagt: Zahlreiche Schlachten des Ersten Weltkrieges haben zumindest gleiche oder ähnliche Auswirkungen auf die folgenden Epochen der Militärgeschichte gehabt; zumal dann, wenn man die Ereignisse von Verdun allein auf das Jahr 1916 reduziert.

Gerade diese unvollständige Darstellung der Kämpfe um Verdun ist für den Kenner der Ereignisse – dies sei noch einmal betont – völlig unverständlich: Allein schon bei einem Besuch der Maas-Region kann jeder sorgfältige Betrachter anhand der unzähligen Kriegsgräber feststellen, was dort seit 1914 bis 1918 geschehen ist. Es begann damit, daß schon bald nach Kriegsbeginn im Rahmen der Kämpfe der deutschen 5. Armee mit ihrem französischen Gegner viele Opfer zu beklagen waren.

Falkenhayns Denkschrift habe es gar nicht gegeben

Zwar wurde noch nicht direkt um Verdun gekämpft; die Festung wurde zunächst umgangen, spielte jedoch trotzdem eine entscheidende Rolle für die militärischen Ereignisse. Verdun war nämlich schon lange vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges zumindest für Deutschland ein historischer und vor allem auch ein militärischer Mythos. So mußte es auch nicht verwundern, daß die ersten Angriffe im Rahmen des sogenannten Schlieffen-Planes dieses Ziel zunächst scheinbar links liegenließen.

Doch der Verlauf der dortigen Operationen, die sich damals und in der Folgezeit an nahezu allen möglichen Flanken von Verdun abspielten, ließen keinen Zweifel daran, daß die deutschen Truppen hofften, bei irgendeiner sich bietenden Gelegenheit – allerdings ohne einen frontalen Vorstoß – eine Eroberung der Maas-Festung vornehmen zu können. Auf jeden Fall ließ der Mythos der Stadt an der Maas die Deutschen nie los. Dies galt natürlich erst recht für die zentralen Schlachten des Jahres 1916, wobei ungewiß bleiben muß, welche Absichten den deutschen Generalstabschef Erich von Falkenhayn wirklich bewogen haben, das Unternehmen „Gericht“ am 21. Februar 1916 in Gang zu setzen.

Jessen geht auch bei der Beantwortung dieser Frage den für ihn bequemsten, weil populärsten Weg, den ihm einige Jahre zuvor der Historiker Holger Afflerbach in seiner Biographie Falkenhayns gewiesen und damit viel Aufsehen erregt hat: Demzufolge soll es seiner späteren Autobiographie zufolge die sogenannte Weihnachtsdenkschrift, in der der deutsche Generalstabschef dem Kaiser gegenüber den Großangriff an der Verdun-Front mit der Absicht begründet haben soll, die französischen Truppen „ausbluten“ zu wollen, überhaupt nicht gegeben haben.

Doch mit einer solchen These macht man es sich natürlich viel zu einfach. Denn wie sähe es beispielsweise mit unserer Kenntnis vom Mittelalter aus, wenn wir dessen Bild nur von den noch vorhandenen Original-Urkunden und nicht mehr auch von später gefertigten Abschriften oder Nachrichten herleiten würden?

Jessen hat indessen auch noch weitere quellenkritische Probleme: So auch, wenn er von vielen im Bundesarchiv-Militärarchiv ausgewerteten Dokumenten behauptet, daß diese bis dahin nicht benutzt worden seien. In Wirklichkeit handelt es sich dabei aber um nachträgliche Stellungnahmen von Zeitzeugen der Kämpfe um Verdun, welche die damals noch vorhandenen Original-Dokumente, die später im Zweiten Weltkrieg durch alliierte Bombardements vernichtet worden sind, bei der Abfassung des Weltkriegswerkes der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt ergänzt haben.

Nimmt man somit alle aufgezeigten oder auch die nicht erwähnten Schwächen in der Darstellung Jessens zusammen, muß resigniert festgestellt werden, daß das Phänomen „Verdun im Ersten Weltkrieg“ trotz aller Bemühungen des Autors auch weiterhin als nicht ausreichend geklärt betrachtet werden muß.

 

Dr. Horst Rohde, Oberstleutnant a.D., arbeitete als Militärhistoriker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA) und publizierte diverse Bücher zur Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkriegs.

Olaf Jessen: Verdun 1916. Urschlacht des Jahrhunderts. C.H. Beck Verlag, München 2014, gebunden, 496 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro

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