© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Sprudelnde Quelle
Datenleck: Im Internet werden seit Wochen Akten des Bundeskriminalamtes zum NSU veröffentlicht
Marcus Schmidt

Der Mann trägt ein graukariertes Hemd, ein Basecap sowie eine Sonnenbrille und sitzt, so sagt er, in Kambodschas Hauptstadt Phnom Penh vor einer Internetkamera.

Seit Wochen sorgt der Mann, der sich „Fatalist“ nennt und von dem in der vergangenen Woche auf Youtube ein Video-Interview veröffentlicht wurde, bei all jenen, die sich mit dem NSU beschäftigen, für Aufregung. Tag für Tag veröffentlicht er auf seiner Internetseite „Lach- und Sachgeschichten“ Auszüge aus Akten, die offensichtlich aus dem Bestand des Bundeskriminalamts zu den Ermittlungen zum NSU stammen. Die Botschaft ist brisant: Die auf der Seite veröffentlichten und von „Fatalist“ kommentierten und eingeordneten Dokumente und Fotos legen den Schluß nahe, daß im Fall des NSU von den Ermittlungsbehörden massiv Beweise gefälscht wurden. Oder kurz gefaßt: daß die von der Bundesanwaltschaft in der Anklageschrift gegen Zschäpe und ihre Mitangeklagten dargelegten Vorwürfe nicht haltbar sind.

In der vergangenen Woche ging der wachsende Kreis von „Privatermittlern“, der sich um die Internetseite und das dazugehörige Forum gebildet hat, in die Offensive und verschickte an mehrere hundert Empfänger eine E-Mail mit einer Zusammenstellung der aus Sicht der Initiatoren eklatantesten Widersprüche. „Auf der Empfängerliste sind alle Vorsitzenden der Parteien in den Parlamenten, Bundes- und Landesvorsitzende, Journalisten, Bundestagsfraktionsvorsitzende und die Mitglieder des Innenausschusses“, berichtete „Fatalist“, der mit bürgerlichem Namen Christian Reißer heißt.

Seit 2011 beschäftigt er sich nach eigenen Angaben intensiv mit dem, wie er sagt, „NSU-Phänomen“. Zunächst habe er auf der Plattform „politikforen.net“ rund 12.000 Beiträge zu dem Thema „NSU-Staatsterror-Inszenierung“ geschrieben. „Dort hat man aber jüngst die Hosen voll gehabt, so daß diese Arbeit verloren ist“, berichtet er der JUNGEN FREIHEIT. Er stellt klar, daß er kein Fachmann, sondern interessierter Laie ist. „Ich bin kein Polizist, auch kein Beamter, ich bin Bauingenieur.“ An die Akten sei er über einen anonymen Hinweisgeber gekommen. Insgesamt eine Datenmenge von acht Gigabyte.

Auffallend ist, daß die Resonanz auf die nunmehr öffentlich zugänglichen Akten bislang äußerst verhalten ist. Lediglich auf Spiegel Online erschien in der vergangenen Woche eine Geschichte über „Fatalist“, die sich aber nicht inhaltlich mit der Seite auseinandersetzte. „Fatalist“ wundert sich darüber nicht. „Der NSU ist Staatsräson der BRD“, ist er überzeugt. Daher machten die „Leitmedien“ einen Bogen um die Geschichte.

Auch beim Generalbundesanwalt in Karlsruhe, der die Ermittlungen zum NSU führt, ist man auf die Akten im Internet aufmerksam geworden. Und reagiert zurückhaltend. „Die Veröffentlichung von Akten eines laufenden Strafverfahrens kann nach Paragraph 353d Nr. 3 des Strafgesetzbuches strafbar sein“, teilte die Behörde auf Anfrage der JUNGEN FREIHEIT mit.

Die Akteneinsichtsrechte in Strafverfahren seien in der Strafprozeßordnung geregelt. „Danach ist im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft für die Akteneinsichtsgewährung zuständig, ab Anklageerhebung grundsätzlich das erkennende Gericht. Der Generalbundesanwalt hat ausschließlich gesetzlich Berechtigten Einsicht in Strafakten aus dem ‘NSU’-Verfahrenskomplex gewährt.“

Das Material ist kaum noch zu überschauen

Die Frage, ob die veröffentlichten Akten authentisch seien, ließ die Behörde unbeantwortet und verwies auf das laufende Verfahren vor dem Oberlandesgericht München. „Daneben führt der Generalbundesanwalt mehrere Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit dem ‘NSU’-Komplex. Vor diesem Hintergrund bitte ich um Verständnis, daß weitergehende Auskünfte nicht erteilt werden können“, sagte ein Sprecher des Generalbundesanwaltes.

Die Fülle des mittlerweile im Internet veröffentlichten Materials ist auch für Kenner der Materie kaum noch zu überschauen. Für die weitreichenden Schlüsse, die „Fatalist“ aus den präsentierten Akten zieht, scheint eine sorgfältige Überprüfung notwendig. Dann wird sich entscheiden, ob die „Lach- und Sachgeschichten“ wirklich das Zeug haben, den Rechtsstaat in seinen Grundfesten zu erschüttern.

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