© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Pankraz,
M. Lermontow und die beleidigte Ehre

Diese Woche ist das russische Kulturleben ganz auf Michail Lermontow fixiert, der vor zweihundert Jahren, am 3. Oktober des Julianischen Kalenders, in Moskau geboren wurde. Gedichte von ihm werden in allen Schulklassen aufgesagt, sein Roman „Ein Held dieser Zeit“ ist neu aufgelegt, in den Zeitungen erscheinen Bilder von ihm: ein stolzer junger Herr in Offiziersuniform, von souveräner Eleganz und mit stürmischem Welteroberungsblick, die Inkarnation einer echt romantischen Existenz.

Tatsächlich steht Lermontow, zusammen mit Puschkin und Tjutschew, am Beginn der russischen Romantik und der modernen russischen Literatur überhaupt, er war ihre Lerche und hat viele erst aufgeweckt und später zum Singen gebracht; er selbst machte früh Schluß, wurde nur 26 Jahre alt und starb eines gewaltsamen Todes – im Duell. Gedichte schreiben und sich duellieren – mehr ist über das kurze Leben des Michail Jurjewitsch Lermontow kaum bekannt. Die Gedichte haben überlebt und ihn zum Liebling der Nation gemacht. Aber wie steht es mit den Duellen?

Es waren alles Ehrenhändel, es ging stets um die Verteidigung der Ehre, entweder der eigenen oder der einer Geliebten. Lermontow wurde seiner Ehrenhändel wegen immer wieder von den Behörden gerügt, wurde zuletzt aus der Offiziersschule Sankt Petersburg in den Kaukasus verbannt. 1838 durfte er zurückkehren, doch ein neues Duell führte zur abermaligen Verbannung in den Kaukasus. Dort fand er im Juli 1841 im Duell mit einem Leutnant Nikolai Martynow den Tod.

Uns Heutigen kommt das höchst fremdartig und archaisch vor, wie auch die vielen anderen Berichte über das Duellwesen in alten Zeiten keineswegs nur in Rußland. Die Ehre war damals eine ungeheuer kitzlige Angelegenheit: ein einziger schiefer Blick eines Gegenübers verletzte sie schon, und sie konnte offenbar nur mit todeshaltigem Aufwand, eben mit Duellen, „wiederhergestellt“ werden. Heute heißen Ehrverletzungen „Beleidigungen“, und wer versuchen würde, die Ehre per Duell wiederherzustellen, würde schwerster Verbrechen angeklagt.

Bei den staatlichen Gerichten gehen Beleidigungsklagen laut Statistik rapide zurück, was beileibe nicht heißt, daß die Beleidigungen ihrerseits zurückgegangen seien. Was sich in unseren Tagen sogenannte Persönlichkeiten der Öffentlichkeit an üblen Nachreden, indiskreten Enthüllungen oder hämischen Begleitkommentaren gefallen lassen, hätte noch zu Kaiser Wilhelms Zeiten für ganze Rattenschwänze von Duellen ausgereicht. Auch der Gründer der Sozialdemokratie, Ferdinand Lasalle, starb bekanntlich an den Folgen eines Duells.

Speziell in der Politik hat sich ein „Ehrenkodex“ herausgebildet, der voller Heuchelei steckt. Hier dreht sich jetzt alles nur noch darum, ob einer das Parlament „belogen“ hat. Leute, die von Berufs wegen geradezu zum Täuschen und Verhüllen gezwungen sind und die sich tagtäglich unablässig beleidigen und gegenseitig die Ehre abschneiden, übertreffen sich unisono an Ehrpusseligkeit, wenn einmal herauskommt, daß sich einer von ihnen nicht mehr genau an einen bestimmten Tatbestand erinnert, der möglicherweise zehn, zwanzig oder noch mehr Jahre zurückliegt.

Die Ehre wird zur bloßen Gedächtnisleistung, verliert jede moralische Dimension. Bezeichnend der auf breiter Front zu beobachtende Verfall der traditionellen Ehrengerichtsbarkeit. Noch vor 1945 hatte faktisch jeder Berufsstand seine staatlich anerkannten Ehrengerichte, deren Schöffen sich exklusiv aus Berufsgenossen zusammensetzten und deren Kompetenz immerhin ausreichte, um Berufsverbote zu verhängen oder Geldbußen festzulegen. Nach dem Krieg blieben davon nur die Ehrengerichte der Ärzte, Rechtsanwälte und Sportler übrig.

Faktisch ist die Verteidigung der Berufs- bzw. Standesehre kein Thema mehr, dafür blüht das Geschäft mit äußeren Ehrungen kräftig wie nie zuvor. Es wimmelt von Orden und anderen Ehrenzeichen, von Ehrendoktoren, Ehrenbürgerrechten, Ehrenpreisen, Ehrenbriefen und Ehrengaben, Ehrengräbern und Ehrentafeln. Fast könnte man meinen, die Inflation der äußeren Ehren sei ausdrücklich gedacht als Kompensation für das Hinschwinden jedweden inneren Ehrgefühls.

Aber gibt es denn diese innere Ehre überhaupt, ist sie hinreichend deutlich abhebbar von der äußeren, das heißt von den Ehrungen und dem Respekt, die ich von draußen empfange? Natürlich weiß ich über meine eigene Ehrlichkeit (in der ausgedehntesten Bedeutung des Wortes) in der Regel recht gut Bescheid, und natürlich bleibt meine Ehrlichkeit auch dann erhalten, wenn sie mir von den anderen abgesprochen wird. Doch ist das nicht das eigentliche Problem der Ehre. Dieses besteht vielmehr darin, daß ich tatsächlich ehrlos werde, wenn ich nicht dafür sorge, daß die anderen mich wenigstens pro forma als Ehrenmann anerkennen.

Ehre ist ein ganz formales Prinzip – und dennoch kann sie wichtiger sein als selbst das Leben. Frühere, aristokratisch gesinnte Gesellschaften waren von der existentiellen Bedeutung der Ehre vollständig überzeugt, es könnten beliebig viele literarische Belege dafür beigebracht werden, von Juvenal bis Schiller. Freilich, der stürmische junge Offizier und Dichter Michail Lermontow seinerseits hielt sein Schaffen gänzlich frei von Duellszenen oder Räsonnements über die Ehre, selbst wenn er aus dem Arrest heraus dichtete, in den man ihn wieder einmal wegen unerlaubten Duellierens eingesperrt hatte.

Hier einige Verse aus seinem berühmten Gedicht „Der Gefangene des Kaukasus“: „Gebt den hellen Tag mir wieder, / Öffnet meines Kerkers Schloß! / Gebt mir mein schwarzäugig Mädchen / Und mein schwarzgemähntes Roß! / Werde küssend, voll Verlangen, / Erst die süße Maid umfangen, / Dann auf’s wilde Roß mich schmiegen, / Pfeilschnell durch die Steppe fliegen ...“

Er war eben eine vollromantische Existenz: Dichten war bei ihm das eine, Duellieren das andere. Heute wird das nicht mehr so klar auseinandergehalten.

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