© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  41/14 / 03. Oktober 2014

Geldvernichtung am Genfer See
Die Kritik am milliardenschweren Human Brain Project der EU verschärft sich
Christoph Keller

Ungewöhnlich genug war es schon, daß sich im Juli gleich Hunderte von Neurowissenschaftlern aus ganz Europa zusammentaten, um mit einem „Offenen Brief“ an die Brüsseler Kommission gegen Kollegen Front zu machen. Aber schließlich geht es um sehr viel Geld, das ein solches Engagement rechtfertigt. Exakt um eine Milliarde Euro, die seit 2013 in das Human Brain Project (HBP; JF 26/13) fließen. Unter der Leitung des israelischen Hirnforschers Henry Markram (École polytechnique fédérale Lausanne) ist damit ein Großforschungsunternehmen gestartet, dessen Ziel es ist, das menschliche Gehirn von Supercomputern zu simulieren, um die Mechanismen neurologisch bedingter Erkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson aufzuklären.

Nachbildung des Gehirns „vollkommen illusorisch“

Schon im Vorfeld der Brüsseler Bewilligung geriet dieses Projektziel unter Beschuß von Kritikern. Unter ihnen war auch Nils Brose, der Direktor der Abteilung Molekulare Neurobiologie am Göttinger Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin, der jetzt, ausgelöst vom „Medienrummel“ um den „Offenen Brief“, die Argumente gegen das „Geldvernichtungsprogramm“ HBP nochmals bündig und mit betonter Schärfe zuspitzend vorträgt (Spektrum der Wissenschaft, 9/2014).

Die von Markram versprochene Nachbildung des Menschenhirns im Lausanner Super-Computer sei „nach heutiger Sicht vollkommen illusorisch“, da dieses extrem komplexe Netzwerk aus 100 Milliarden Nervenzellen Hunderter verschiedener Typen bestehe, die über 100 Billionen Synapsen kommunizieren, die ihrerseits höchst heterogene Eigenschaften haben. Allein weil diese Eigenschaften der Synapsentypen, die die Informationsübertragung im Gehirn ausführen, noch unbekannt seien, müsse dem „Flaggschiff der EU-Wissenschaftsförderung“ die erforderliche „Detailtiefe“ fehlen. Deswegen könne das angestrebte Computermodell Experimente auch nicht ersetzen und werde sein erklärtes Ziel, die neurologische und psychiatrische Medizinforschung zu revolutionieren, höchstwahrscheinlich verfehlen.

Eine Prognose, die Brose auch der jüngst unter dem Feuer der Kritik vorgenommenen medizininformatorischen Umdeutung des Megaprojekts stellt. Demnach wolle man nun mit dem Super-Computer Patientendaten aus der ganzen Welt sammeln und analysieren, um die biologischen Kennzeichen von Erkrankungen aufzudecken. Auch diesen Stellungswechsel hält Brose für wenig seriös. Zwar sei der Aufbau von Informationstechnologie für diese globale Patientendatenbank möglich, aber es fehlten die „konkreten Fragestellungen“, um entscheiden zu können, welche Daten in welcher Qualität benötigt werden.

Angesichts derartig vager Zielformulierungen, in die sich die Hauptakteure des Human Brain Project bei ihren öffentlichkeitswirksamen Auftritten von Anfang an flüchteten, hätte die Europäische Kommission „das Vorhaben nie fördern dürfen“. Das Geld, das derzeit in Lausanne verbrenne, fehle jedenfalls für aussichtsreichere neurowissenschaftliche Forschungen.

Foto: Menschliches Gehirn am Computer: Medienrummel um das Flaggschiff der EU-Wissenschaftsförderung

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