© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Wertschöpfung aus dem Wertlosen
Sag’s mit Goethe: Schöngeistige Kapitalismuskritik in dem interdisziplinären Sammelband „Ware Mensch“
Heiko Urbanzyk

Was den Leser des Sammelbandes „Ware Mensch – Die Ökonomisierung der Welt“ mit 14 Beiträgen von Germanisten, Juristen, Kultur- und Erziehungswissenschaftlern erwartet, hätte in der Verlagswerbung oder auf dem Klappentext erwähnt werden müssen: Oder vermutet der potentielle Käufer bei diesem Titel ganz selbstverständlich eine Kapitalismuskritik aus überwiegend kultureller und literaturwissenschaftlicher Sicht? Nein! Freunde trockener ökonomischer Theorien und nüchterner wirtschaftsrechtlicher Analysen sollten keinen Blindkauf tätigen. Es weht das Kulturjournal durch diese Seiten, wo sogar der „Presseclub“ eher dem Titel entsprochen hätte.

Manfred Stassen (USA) widmet sich in seinem Aufsatz „Das Drama der Ökonomisierung der Welt und die erzählte Monetarisierung“ unter anderem den wirtschaftlich visionären Inhalten von Goethes „Faust“. Die wichtigste Karriere des Faust beim Streben, Gott zu werden, sei die des Ökonomen. Seine „Erfindung des Papiergeldes aus dem Geiste der Magie“ stand im diametralen Gegensatz zu den ökonomischen Gegebenheiten der Goethe-Zeit: Die menschliche Produktivkraft begrenzte damals die Wertschöpfung auf natürliche Weise. Faust habe mit dieser Alchemie den modernen Kapitalismus vorweggenommen. „Die gegenwärtigen Kapitäne der Hochfinanz“ seien seine Schüler. „Die post-modernen Alchemisten haben das Prinzip der ‘creatio ex nihilo’, der Wertschöpfung aus dem Wertlosen bzw. dem Nichts, völlig verinnerlicht und radikalisiert“, meint Stassen. Die totale Entkopplung der menschlichen Arbeit vom Wachstum. Was Faust verwehrt geblieben sei, schaffe heute die Globalisierung mit dem Internet: die Überwindung von Raum und Zeit. Eine kleine Geschichte zum Papiergeld und ein kurzer Haßgesang auf den Kasinokapitalismus verleihen dem Text die Würze, die der Buchtitel verspricht.

Leo Kreutzer, emeritierter Germanistikprofessor in Hannover, kommt – inspiriert durch die Werttheorie des österreichischen Schriftstellers Hermann Broch (1886–1951) in dessen Roman-Trilogie „Schlafwandler“ – dagegen auf einen provokativen Gedanken. Sind die schwarzen Schafe des Kapitalismus nicht dessen wahre Avantgarde? Nach Brochs Werttheorie ja, denn auf ihrem Gebiet brechen sie Rekorde und treiben seine Logik voran. „Haben wir es bei ihnen nicht mit fachlicher ‘Exzellenz’ zu tun? Gehen sie vielleicht nur konsequenter ‘sachgemäß’ vor, als unsereins“, will Kreutzer wissen. Er antwortet selbst, indem er feststellt, daß die Logik dieser Avantgarde ein neues Stadium der Radikalisierung erreicht habe: „Mit Wirtschaften überhaupt hat eine ‘Entfesselung’ der Finanzmärkte so wenig zu tun wie das Agieren von Räuberbanden an der Spitze von Staaten mit Politik.“

Kreutzer erinnert uns in einer Randnotiz daran, daß der jüdischstämmige, zum Katholizismus konvertierte Broch in den „Schlafwandlern“ Anfang der 1930er Jahre Kapitalisten mit einem „Heuschreckenschwarm, der über ein Feld zieht“, verglich. SPD-Urgestein Franz Müntefering löste noch im Herbst 2004 mit diesem Vergleich eine Diskussion über „nationalsozialistische Denkmuster“ aus.

Ulrike Kistner von der Universität Pretoria wirft einen empirischen Blick auf die schwarze Mittelschicht in Südafrika. „Freiheit und demonstrativer Konsum“ setzt sich mit Studien über die „Black Diamonds“ auseinander, wie die schwarzen Mittelschichtler genannt werden. Die Ausführungen legen den Schluß nahe, daß der Wille zum ungehemmten Konsum eine treibende Kraft der Anti-Apartheid-Bewegung war. Sakrileg! Verschwendung als nachzuholendes Prestige und eine überdurchschnittlich hohe Verschuldung zwecks Luxusgütererwerbs prägen diesen immer noch vergleichsweise armen Mittelstand – und finden damit Parallelen zur schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA.

Völlig neben dem Titel dieses Sammelbandes liegt der Philosoph und Jurist Alexander Baur mit seinem schöngeistigen Beitrag über den Dialog von „Law und Literature“. Kritik an der Ökonomisierung der Welt beinhaltet der Text nicht einmal als Feigenblatt. Ebendies gilt für seine Abhandlung „Überzeugungs- und Gewissenstäter im Recht und in der Literatur“.

Auch der emeritierte Germanist Dakha Deme (Dakar) liegt mit dem sperrigen Titel „Wahre Negerware. Dekonstruktionsversuch einer semantischen Ungerechtigkeit“ völlig neben der Spur. Der Leser wird seitenweise darüber belehrt, warum das Wort Neger kein wertneutraler Begriff zur Bezeichnung von Afrikanern sei. Wo ist der Bezug zur Ware Mensch? Der Verweis auf den Sklavenhandel allein stopft dieses fehlende Bindeglied nicht.

Mit Blick auf so manche Perle, die sich unter den 14 interdisziplinären Aufsätzen findet, sind die wenigen thematischen Fehlgriffe verzeihlich. Eine interessante Art, deutsche Literaturklassiker zu betrachten.

F. Baasner, H.-D. Assmann, J. Wertheimer (Hrsg.): Ware Mensch – Die Ökonomisierung der Welt. Nomos Verlag, Baden-Baden 2014, broschiert, 240 Seiten, 30 Euro

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