© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Gestohlene Jahre
Kommunistische Verfolgung: In „Herr Hübner und die sibirische Nachtigall“ verschränkt Susanne Schädlich zwei Häftlingsschicksale miteinander
Jörg-Bernhard Bilke

Das Buch, das die 1965 in Ost-Berlin geborene Susanne Schädlich unter dem lyrisch anmutenden Titel „Herr Hübner und die sibirische Nachtigall“ veröffentlicht hat, ist alles andere als ein Text, den man gemütlich unter der Leselampe aufnimmt. Das, was er bietet, fordert den Leser heraus, macht ihn wütend und traurig, denn berichtet wird aus einer Zeit, die längst vergangen ist, aber dennoch die DDR-Deutschen bis heute prägt: Es geht um das unerhört grausame Wüten des Stalinismus 1945/49 in der Sowjetischen Besatzungszone und danach im 1949 gegründeten SED-Staat. Insofern ist Susanne Schädlichs Roman auch ein Buch zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte, in deren Tiefen bisher kaum ein Forscher vorgedrungen ist.

Verurteilt zu 25 Jahren Arbeitslager

Dieses eindringlich geschriebene, den Leser bis zur letzten Zeile zutiefst berührende Buch ist aber weit mehr. Es zeigt auch, was den Westdeutschen nach 1945 erspart geblieben ist an politischer Verfolgung. Es geht hier um die Schicksale zweier Dresdner, deren Wege sich nur einmal kreuzten: um das des 1927 geborenen Studenten Dietrich Hübner, der nach 1945 in der sächsischen Landeshauptstadt die Liberaldemokratische Partei mitbegründet hat, der damals mit dem späteren FDP-Politiker Wolfgang Mischnick (1921–2002) befreundet war, der von den Russen am 13. Juli 1948 in Dresden verhaftet und am 9. März 1950 zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt wurde.

Und es geht um die nach dem Krieg mit ihrem achtjährigen Sohn Götz in Dresden lebende Sängerin und Schauspielerin Mara Jakisch (1905–2005), die am 14. Januar 1947 verhaftet, auch zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt wurde und sieben Jahre lang im Lager Taischet in Sibirien Bäume fällen mußte, bis sie 1955, erschöpft und ausgemergelt, in die Bundesrepublik Deutschland entlassen wurde. Beide Gefangenen, verzweifelt über ihr Schicksal, unterhielten sich 1948 mit Klopfzeichen durch die Wand im NKWD-Untersuchungsgefängnis, dem ehemaligen Landgericht am Münchner Platz, in Dresden, begegneten sich aber im wirklichen Leben nie.

Susanne Schädlich, deren lakonischer Stil an Walter Kempowskis erstes Buch „Im Block“ (1969) erinnert, worin er seine acht Zuchthausjahre im „Gelben Elend“ von Bautzen beschrieb, verknüpft zwei Schicksale miteinander, indem sie zwei authentische Figuren wechselweise auftreten läßt. Die Bezugspunkte zueinander waren lediglich die Klopfzeichen durch die Wand, die ihnen aber im Gedächtnis haften blieben. Beide Gefangenen überlebten, wenn auch mit schweren Schäden an Leib und Seele.

Sie, der gefeierte Bühnenstar, einem rauschaften, politikfernen Leben verfallen, ist von Dresden nach West-Berlin gefahren, um mit einer Freundin ein Fest zu besuchen, wo auch amerikanische Offiziere auftauchten, was ihr zum Verhängnis wurde. Nach einem Selbstmordversuch kam sie ins Speziallager Sachsenhausen bei Berlin und von dort in achtwöchiger Eisenbahnfahrt nach Sibirien. Er, dessen Eltern verzweifelt um seine Freilassung kämpften, wurde am 28. März 1950 der „Volkspolizei“ übergeben, kam ins „Gelbe Elend“ nach Bautzen und später ins Zuchthaus Brandenburg-Görden.

Wer niemals in ähnlicher Lage war, wird kaum ermessen können, was es bedeutet, jahrelang unschuldig eingesperrt zu sein. Dietrich Hübners Verlobte

Ruth, der er 1953 freigestellt hatte, sich von ihm zu lösen, besuchte ihn 1962 und war ein fremder Mensch geworden. Nur seine Mutter Christa, die dann 1976 starb, harrte aus und konnte ihn 1964 in die Arme schließen. Sein 1920 geborener Bruder Roland, der sich jahrelang bei den FDP-Politikern Thomas Dehler, Wolfgang Mischnick, Hans-Dietrich Genscher für ihn eingesetzt hatte, umarmte ihn wortlos nach 16 Jahren. Dietrich Hübner hat dann noch in Bonn fünf Jahre Volkswirtschaft studiert und im Bundesinnenministerium gearbeitet. Er heiratete, wurde Vater einer Tochter und lebt heute mit 87 Jahren im Rheinland.

Mara Jakisch wurde von niemandem erwartet, als sie mit Margarete Mehlhemmer (1894–1971), die sich später umbringen sollte, aus Sibirien entlassen wurde. Ihr 1939 geborener Sohn Götz Hartung wohnte in Finow/Mark und floh 1957 nach West-Berlin, wollte aber nichts davon wissen, was seiner Mutter zugestoßen war. Er starb 2002, sie 2005 im Alter von hundert Jahren in Frankfurt/Main.

Das alles sind freilich nur die biographischen Daten, die nichts aussagen über das zermürbende Leben in kommunistischen Zuchthäusern und Straflagern. Susanne Schädlich hat in bewundernswerter Weise die beiden Schicksale miteinander verschränkt, Dietrich Hübner mehrmals befragt und Zeugnisse aus dem Leben Mara Jakischs ausfindig gemacht. Allein das ist schon eine Leistung. Daß sie schreiben kann, hatte sie schon mit ihrem Buch „Immer wieder Dezember“ (2009) bewiesen, in dem sie vom Schicksal ihres Ost-Berliner Onkels, des Historikers Karlheinz Schädlich berichtete, der als „inoffizieller Mitarbeiter“ der „Staatssicherheit“ seinen Bruder Joachim Schädlich observierte und der sich, nach Aufdeckung seiner Verstrickungen, am 17. Dezember 2007 auf einer Parkbank erschoß.

Wie Mara Jakisch ging es Hunderttausenden deutschen Frauen nach dem Kriegsende. Sie war in diesem Kontext „Verschleppung nach Sibirien“ lediglich ein Rädchen in der Verhaftungswelle 1945/49, die nicht wußte, was man ihr vorwarf. Sie mußte sieben Tage die Woche bei eisiger Kälte Bäume fällen, wurde bei Nichterfüllung des Solls mit Essensentzug bestraft und erhielt ihren ersten Brief am 20. Juni 1954 von ihrer Schwägerin Margarete Hartung: „Sie weinte und weinte. Und hörte nicht auf.“

Adenauer verhandelte erfolgreich mit den Russen

Als Bundeskanzler Konrad Adenauer vom 8. bis 14. September in Moskau mit den Russen verhandelte, wurden sie und alle deutschen Frauen, die verschleppt worden waren, in die Freilassungsaktion einbezogen. Abfahrtstermin war der 4. Oktober, nach 16 Tagen überquerte der Zug die Oder, am 20. Oktober erreichten die Frauen das Lager Friedland in Niedersachsen, wo Mara in Ohnmacht fiel und ins Müttergenesungswerk nach Einbeck gebracht wurde. Erst zwei Jahre später traf sie ihren Sohn.

Gegen Dietrich Hübner wurde wegen seiner „feindlichen Einstellung“ zum Kommunismus am 2. April 1963 ein „operativer Vorgang“ gegen ihn eingeleitet, was zu einem neuen Prozeß am 15. Oktober vor dem Bezirksgericht Potsdam führte, wo er zu noch einmal vier Jahren verurteilt wurde. Nun aber wurde die Westpresse auf ihn aufmerksam. So stand im Berliner Tagesspiegel vom 25. Juli ein Artikel „Politischer Häftling in der Zone verschwunden“. Am 14. August 1964 wurde er schließlich freigekauft, kam am 31. August nach Bonn-Duisdorf, wo keiner seiner Parteifreunde sich um ihn kümmerte, wurde zur Kur ins Allgäu geschickt und nahm im Wintersemester 1965/66 in Bonn das Studium der Volkswirtschaft auf.

Das Buch ist sehr gekonnt und überzeugend geschrieben. Warum nur macht es den Leser so unendlich traurig?

Susanne Schädlich: Herr Hübner und die sibirische Nachtigall. Roman, Droemer-Verlag, München 2014, gebunden, 227 Seiten, 19,99 Euro

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