© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  42/14 / 10. Oktober 2014

Clark zum Quadrat
Der australische Historiker Douglas Newton und die britische Schuld am Ausbruch des Ersten Weltkriegs
Werner Lehfeldt

Der in Australien lehrende Historiker Douglas Newton will mit seinem Buch „The Darkest Days. The Truth behind Britain’s Rush to War, 1914“ für Unruhe sorgen, vor allem in Großbritannien. Diese Absicht verwirklicht er, indem er die „Standardgeschichte“ von Großbritanniens Eintritt in den Krieg im August vehement in Frage stellt und attackiert. Gemäß diesem Mythos hat Großbritannien in der Julikrise alles unternommen, um den Krieg abzuwenden. Die vorgeblich erst am 4. August getroffene Entscheidung, sich schließlich dennoch an ihm zu beteiligen, sei die unvermeidliche Antwort auf die an diesem Tag erfolgende deutsche Invasion Belgiens gewesen. Dieser Entschluß sei im Lande nahezu einmütig gebilligt worden, und es habe nur eine ganz kleine Gruppe pazifistischer Abweichler gegeben.

Das Buch von Newton ist der Widerlegung dieses „tröstlichen Konsenses“ gewidmet. „Britanniens Irrtümer leisteten einen signifikanten Beitrag zum Ausbruch der gemeinsamen europäischen Tragödie des Großen Krieges.“ Die rote Linie, die das Buch durchzieht, ist die Darstellung des Kampfes zwischen den zur Beteiligung am Krieg entschlossenen Interventionisten im liberalen Kabinett, der konservativen Opposition und der Northcliffe-Presse einerseits sowie der den Krieg ablehnenden, auf Neutralität pochenden Kabinettsmehrheit und der Friedensbewegung in der britischen Bevölkerung andererseits.

Der Autor zeigt auf, daß und wie eine kleine Gruppe von Entscheidungsträgern im Kabinett – Premier Herbert Asquith, Außenminister Edward Grey, Winston Churchill als Erster Lord der Admiralität und Lordkanzler Richard Haldane –, die vom Beginn der Krise an zur Durchsetzung von Großbritanniens militärischer Intervention an der Seite Frankreichs und Rußlands entschlossen waren, Entscheidungen trafen, die den Kriegsbeginn beschleunigten. Er belegt auch, daß sie andererseits Schritte unterließen, die geeignet gewesen wären, den Krieg zu vermeiden.

Ferner macht er deutlich, daß der endgültige Beschluß zum Eintritt in den Krieg bereits am 2. August 1914 gefällt wurde. An diesem Tag gab das Kabinett mit hauchdünner Mehrheit Frankreich gegenüber die Versicherung ab, Großbritannien werde dessen Nordküste im Kriegsfall schützen, zu einem Zeitpunkt also, als die deutsche Invasion Belgiens noch gar nicht erfolgt war und der deutsche Botschafter in London das Angebot unterbreitet hatte, Deutschland sei bereit, Belgiens Neutralität und Frankreichs Integrität – einschließlich des Kolonialbesitzes – zu respektieren, sollte Großbritannien in dem heraufziehenden Konflikt neutral bleiben. Über dieses Angebot wurde das Kabinett von Grey nicht einmal informiert. Hinter dem Beschluß zur Kriegsteilnahme stand vor allem das Streben, „Solidarität“ mit Frankreich und Rußland zu bezeugen.

Entschieden wendet sich der Autor auch gegen die weitverbreitete und eifrig gehegte Ansicht, gegen den Kriegskurs habe es kaum Widerstand gegeben. Das Gegenteil war der Fall. Die große Mehrheit des liberalen Kabinetts wollte strikt an einem Neutralitätskurs festhalten, und schließlich reichten vier Angehörige dieser Mehrheitsgruppe ihren Rücktritt ein, zum Zeichen des prinzipiellen Protests gegen Greys Politik, die zum Krieg führen mußte. Der Autor beschreibt die politischen Entscheidungsprozesse, wie sie sich vom 23. Juli bis zum 4. August abspielten, in einer Art Tageschronik, wobei es ihm ganz wesentlich darauf ankommt, die Zeitpunkte entscheidender Weichenstellungen präzise zu bestimmen. Hierbei zeigt er auf, wie planvoll die Kabinettsminderheit der Interventionisten vorging, um ihr Ziel zu erreichen.

Greys Kriegspolitik umging britisches Gesamtkabinett

Die wichtigsten Schritte auf diesem Weg wurden unter bewußter und konsequenter Umgehung und Ausschaltung des Gesamtkabinetts und des Parlaments unternommen, durch Schaffung von faits accomplis, für die dann nachträglich die deutsche Invasion Belgiens die propagandistisch höchst willkommene, ja herbeigesehnte Begründung lieferte, obwohl sie in Wirklichkeit dazu beigetragen hatten, Rußlands und Frankreichs Kriegswilligkeit noch anzufeuern.

Bereits am Wochenende des 25./26. Juli wurde die Flotte auf Initiative Churchills und mit Billigung Greys ohne Konsultation und Beschlußfassung des Kabinetts in den Kriegsbereitschaftszustand versetzt, zu einem Zeitpunkt also, da es in der Julikrise noch keine einzige Kriegserklärung gegeben hatte. In Frankreich und Rußland wurde diese ihren Londoner Botschaftern von Grey sogleich mitgeteilte Maßnahme natürlich freudig begrüßt und „richtig“ verstanden. Am 28. Juli wurde die 1. Flotte nach Norden auf ihre Kriegspositionen beordert. Zu diesem Zeitpunkt war noch nicht einmal entschieden, ob es selbst nur auf dem Balkan tatsächlich zum Krieg kommen würde. Die dramatische Reaktion Rußlands war am nächsten Tag die Verkündung der Generalmobilmachung, nachdem die gegen Deutschland und Österreich-Ungarn gerichtete Mobilmachung unter möglichster Geheimhaltung bereits am 24./25. Juli angelaufen war.

Parallel zu diesen eindeutig auf den Kriegseintritt zielenden Maßnahmen wurden deutsche Angebote, über Großbritanniens Neutralität im Kriegsfall zu verhandeln, von Grey zurückgewiesen. Der Außenminister war zu keinem Zeitpunkt und zu keinerlei Bedingungen bereit, Großbritanniens Neutralität auch nur in Aussicht zu stellen, selbst dann nicht, als Deutschland anbot, Belgiens Neutralität zu respektieren. Er ließ sich bei dieser an Kabinett und Parlament vorbei verfolgten Linie von seiner unverrückbaren Überzeugung leiten, Großbritannien sei unter allen Umständen zur Intervention als Alliierter Frankreichs und Rußlands verpflichtet, einer Überzeugung, die er bereits 1907 geäußert und seitdem zur Grundlage seiner Außenpolitik gemacht hatte.

Bei der Verfolgung und Durchsetzung dieser Linie wurde er im Außenministerium von seinen konsequent deutschfeindlichen und russophilen Beratern, allen voran den Unterstaatssekretären Arthur Nicolson und Eyre Crowe, unterstützt, um nicht zu sagen gesteuert. Breiteste Unterstützung fand der Interventionskurs „einer Handvoll von Männern“ bei der konservativen Opposition und in der Northcliffe-Presse – besonders in der Times –, die nichts ungetan ließen, um die Regierung zum frühestmöglichen Zeitpunkt zum Eintritt in den Krieg zu bewegen, damit eine günstige Gelegenheit zur Niederringung des deutschen Wirtschaftsrivalen nicht ungenutzt vorübergehe.

Douglas Newton: The Darkest Days. The Truth behind Britain’s Rush to War, 1914. Verso Publishers, London/New York 2014, gebunden, 386 Seiten, etwa 20 Euro

Foto: William Lionel Wyllie, The Opening of Tower Bridge, Öl auf Leinwand 1894: Gelegenheit zur Niederringung des deutschen Wirtschaftsrivalen

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