© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/14 / 17. Oktober 2014

Sigmar Gabriel sucht die Welle
Große Koalition: In Berlin mehren sich die Anzeichen für eine Ausstiegsstrategie des SPD-Chefs
Paul Rosen

Vielleicht ist ja der Vorrat an Gemeinsamkeiten in der Berliner Großen Koalition zwischen CDU/CSU und SPD gar nicht erschöpft so wie 1982 zwischen SPD und FDP in Bonn. Vielleicht soll das bisher gute Arbeitsverhältnis zwischen den beiden Volksparteien vielmehr durch eine Politik der ständigen Nadelstiche erst gestört und dann zerstört werden. Denn für Beobachter der Berliner Szene ist klar: Die SPD würde lieber heute als morgen aus der Regierung von Kanzlerin Angela Merkel ausscheren und mit den „fortschrittlichen Kräften“ des Bundestages ein rot-rot-grünes Bündnis bilden, auch wenn sich besonders in der Außen- und Europapolitik noch viele Übereinstimmungen mit den Christdemokraten finden würden.

Peter Tauber und die „rote Null“

Und in der Innenpolitik unternimmt die Union in Gestalt des Innenministers Thomas de Maizière (CDU) alles, um die Sozialdemokraten zum Beispiel durch Gesetzesänderungen zur endgültigen Aufnahme aller abgelehnten Asylbewerber in Deutschland an sich zu binden. Doch die Genossen suchen nach einem Anlaß für den großen Knall. Das Herz schlägt schließlich links.

Bei der jüngsten Absetzübung ging es um die „schwarze Null“ im Bundeshaushalt. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) will für 2015 einen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung präsentieren. Der SPD ist die mit ihrer Zustimmung im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse längst ein Dorn im Auge, den sie lieber heute als morgen entfernen würde. Denn nicht nur auf Bundesebene ist die Schuldenbremse lästig, weil Wahlgeschenke dann nicht mehr auf Pump verteilt werden können. Unter den Bundesländern ist es besonders das SPD-regierte Nordrhein-Westfalen, das seine Finanzen gar nicht mehr in den Griff bekommt und dringend neue Kredite braucht. Bei der Debatte um die Schuldenbremse blies wieder einmal der stellvertretende SPD-Vorsitzende Ralf Stegner aus Schleswig-Holstein zum Angriff: „Ich plädiere für höhere Investitionen in Bildung und Infrastruktur“, sagte Stegner, für den Schäubles schwarze Null „keine sozialdemokratische Null“ ist. CDU-Generalsekretär Peter Tauber giftete zurück, Stegner sei die „rote Null“.

Doch so einfach, wie Tauber glaubt, ist die Sache nicht. SPD-Chef Sigmar Gabriel hatte bereits im September das Feuer auf die Reihen des Koalitionspartners freigegeben, als er selbst mit einem Angriff auf die „Inszenierungsministerin“ Ursula von der Leyen (CDU) loslegte. Der stets auf Presseecho bedachten Verteidigungsministerin flog inzwischen die verfehlte Rüstungspolitik der vergangenen Jahrzehnte um die Ohren. Um so heftiger wirkten da die Angriffe der SPD. So forderte der stellvertretende Parteivorsitzende Torsten Schäfer-Gümbel die Verteidigungsministerin auf, „weniger Fototermine“ zu machen. Das saß. Inzwischen ist von der Leyen in der öffentlichen Gunst weit abgefallen, ihre Rolle als Kronprinzessin wird in Frage gestellt.

Gabriel selbst versuchte zwar für Öffentlichkeit und Koalitionspartner, seine gegen die Schuldenbremse stänkernden Genossen wieder einzufangen („Ihr kapiert das nicht“), setzte aber selbst auch alles daran, in der Koalition für schlechte Stimmung zu sorgen. Ende September knöpfte er sich im Bundestag die geplanten Freihandelsabkommen mit Kanada (Ceta) und den Vereinigten Staaten (TTIP) vor und kündigte „Nachverhandlungen“ an wegen der sogenannten Schutzklauseln für Investoren: „Es ist völlig klar, daß wir diese Investitionsschutzklauseln ablehnen.“

TTIP ist Gabriels Nachrüstung

Dabei geht es längst nicht nur um Investitionsschutzklauseln, die es mit vielen Ländern gibt und die es dem schwedischen Energiekonzern Vattenfall ermöglichten, Deutschland wegen des Atomausstiegs vor einem Schiedsgericht zu verklagen. Mehrere Vattenfall-Kernkraftwerke waren in Deutschland abgeschaltet worden. Der Konzern verlangt Milliardensummen an Schadensersatz. Solche Verfahren würden auch in anderen Fällen drohen, wo Deutschland zunächst zugesicherte Handelsfreiheiten nicht gewähren oder nachträglich wieder abschaffen würde. Gerne genannt werden das Chlorhühnchen (steht für amerikanische Lebensmittelherstellungsverfahren mit Chlor) oder auch die Buchpreisbindung als Markthindernis. Immer wieder ist auch davon die Rede, daß kommunale Dienstleistungen wie die Wasserversorgung privatisiert werden müßten, wenn TTIP in Kraft tritt. Zuletzt wird die Angst geschürt, in Deutschland müsse die Gasförderung mit dem umstrittenen Fracking-Verfahren zugelassen werden. Das sind alles Punkte, die bei vielen Bürgern große Sorgen und auch Angst auslösen

Bürgerinitiativen, SPD-Verbände, Linke und Grüne sammeln bundesweit Unterschriften gegen TTIP und führen Aktionen durch. Hier, hofft Gabriel, könnte eine Welle hochgehen wie seinerzeit gegen die Nachrüstung. Und diese Welle soll ihn ins Kanzleramt tragen, wo die Amtsinhaberin Angela Merkel seltsam still residiert. So still, daß die FAZ bereits zum Thema „Die Nachfolge“ leitartikelte, aber auch nicht mehr als den Namen von der Leyen wußte. Im Handelsblatt empfahl der frühere Hamburger Bürgermeister Ole von Beust (CDU), nach neun Jahren sei es „klug, sich auf die Zeit nach Merkel vorzubereiten“. Das tut offenbar Gabriel.

Foto: Sigmar Gabriel und Angel Merkel am Kabinettstisch: Die Kanzlerin ist seltsam still

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