© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  43/14 / 17. Oktober 2014

Heikler Grenzübertritt
Kriminalität: Polizisten aus Deutschland und Polen dürfen Verdächtige unter bestimmten Voraussetzungen bis ins Nachbarland verfolgen
Paul Leonhard

Der Stinkefinger des flüchtenden Autofahrers brennt sich ins Gedächtnis des Polizisten ein. Dann verschwindet der Tankstellenbetrüger in Polen, während der deutsche Streifenwagen auf dem Standstreifen ausrollt. Der Beamte auf dem Beifahrersitz blättert in einem A4-Ordner und atmet hörbar auf. Alles richtig gemacht: „Nur Fahndung/keine Verfolgung auf frischer Tat = keine Nacheile möglich“, steht in der Handreichung hinter einem entsprechenden Fallbeispiel. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn der Betrüger auf frischer Tat von der Polizei erwischt und von dieser verfolgt worden wäre, dann wäre die Nacheile möglich gewesen.

Schon das alte deutsch-polnische Polizeiabkommen ist so kompliziert, daß ein „Flußdiagramm“ den Beamten die wichtigsten Fallbeispiele erläutert. Inzwischen gibt es einen neuen Vertrag, der zwar von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und seinem polnischen Amtskollegen Bartlomiej Sienkiewicz in Zgorzelec, dem polnischen Teil von Görlitz, feierlich unterzeichnet wurde, der aber von den Parlamenten noch nicht ratifiziert wurde.

Bis dahin bleibt die Nacheile ins Nachbarland eine rechtlich unsichere Sache, auf die viele Polizisten lieber verzichten. Es geht um Kompetenzprobleme, Kommunikationsschwierigkeiten, jede Menge Papierkram und die Angst, es mit der Staatsanwaltschaft zu tun zu bekommen. „Es könnte schiefgehen, daß im Zweifel keine Straftat vorliegt, die einer Nacheile würdig ist und danach muß man sich erklären“, zeigt die Pressesprecherin der Polizeidirektion Görlitz, Kathleen Kalbe, Verständnis für die Situation ihrer Kollegen auf der Straße.Auf polnischem Hoheitsgebiet dürfen Personen verfolgt werden, die bei einer Straftat überrascht wurden. Allerdings muß der Gesetzgeber für diese Tat eine Mindesthöchststrafe von zwölf Monaten oder mehr vorsehen. In Deutschland betrifft das quasi jede Straftat, inbegriffen Diebstahl, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr, Trunkenheit im Verkehr. In Polen ist der Gesetzgeber da schon etwas lascher. Einiges gilt dort lediglich als Ordnungswidrigkeit. Der bloße Verdacht einer Straftat reicht nicht aus, sie muß aus Sicht des Polizisten „beweissicher“ sein. Auch Gefängnissausbrecher dürfen nicht einfach über die Oder- und Neißebrücken verfolgt werden, sondern nur wenn die Reststrafe noch mindestens drei Monate beträgt. Außerdem ist zuvor der polnische Grenzschutz zu informieren. Aber auch hier gibt es eine Ausnahme: besondere Dringlichkeit.

Für zusätzliche Komplikationen sorgen Sprachbarriere und unterschiedliche Strukturen der Polizei. In der Deutschen Polizei, der Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei macht die 3. Einsatzhundertschaft Brandenburg darauf aufmerksam, daß „die Voraussetzungen für eine Nacheile nach Polen oft nicht gegeben“ seien und „der fehlende Zugriff auf den FADA-Datenbestand den operativen Kräfte vor Ort die Verdachtserhärtung“ erschwere. Auch müsse der Kreis der zugriffsberechtigten Personen erweitert werden.

Wichtig ist, daß die uniformierten Beamten gültige Dienstausweise dabeihaben und Zivilkräfte Armbinden. Die Zustimmung zu einer Nacheile kann versagt werden beziehungsweise diese ist auf Verlangen sofort zu beenden. Verboten ist den Polizisten im Nachbarland das Betreten von Wohnungen und umzäunten Grundstücken. Sie dürfen weder Vernehmungen noch Identitätsfeststellungen vornehmen. Erst der noch nicht gültige neue Vertrag räumt Polizeistreifen auf dem Territorium des Nachbarlandes hoheitliche Befugnisse wie die vorläufige Festnahme ein.

Bei Erfolg und Mißerfolg sind die zuständige Behörde und die Staatsanwaltschaft zu informieren. Ohnehin ist die Nacheile nur solange möglich, wie Sichtkontakt zu den Kriminellen besteht. Aus diesem Grund brach eine Zivilstreife der Gemeinsamen Operativen Fahndung von Bundespolizei, Zoll und Inspektion Uckermark Anfang Juli die Verfolgung eines Audis mit polnischem Kennzeichen ab, als sie wegen der halsbrecherischen Fahrweise des Flüchtigen den Blickkontakt zu diesem verlor. Die alarmierte polnische Polizei entdeckte später das mit Diebesgut beladene Auto verlassen an einer Tankstelle.

Eine Streife der Bundespolizeidirektion Chemnitz handelte dagegen Ende Juli eigentlich völlig falsch, als sie ein tschechisches Auto mit einem zur Fahndung ausgeschriebenen, 35.000 Euro teuren Kompressor an sich vorbeifahren sah, ihn aber auf deutscher Seite nicht mehr stoppen konnte. Die Beamten verfolgten das Fahrzeug auf tschechischem Gebiet, stoppten es und übergaben die Insassen einer tschechischen Streife. Da weder ein gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr noch wenigstens eine versuchte Körperverletzung oder eine Verfolgung auf frischer Tat vorlag, sondern allein eine Fahndung, verstießen die deutschen Beamten eindeutig gegen geltendes Gesetz. Wenn sie Pech haben, müssen sie sich dafür dienstrechtlich verantworten.

Foto: Deutsch-polnische Polizeistreife: Wer Pech hat, bekommt Ärger mit den Vorgesetzten

 

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